Wie die Würfel fallen
Georg hörte Elsbeths Schnaufen, obwohl sie inzwischen etwa 20 Meter hinter ihm zurückgeblieben war. Es klang, als ob ein Walross verenden würde.
„Verdammt Georg, nun warte doch mal auf mich!“
Elsbeths Stimme hatte einen Ton angenommen, den Georg nach fast 42 Ehejahren recht gut zu deuten wusste. Sie war erschöpft, ungehalten, weil er stets vornweg turnte, und nörgelig, weil sie viel lieber am Strand oder in einer Hängematte unter Palmen liegen würde. Stattdessen musste sie mit ihm die Sommerferien in den Bergen verbringen. Nun, die Würfel hatten darüber entschieden. Daran gab es nichts zu rütteln.
Georg liebte die Berge, Elsbeth liebte Strand und Meer. Vor langer Zeit hatten sie deshalb vereinbart, dass sie um das Ziel ihres Sommerurlaubs würfeln würden. Wer die höhere Summe erspielte, gewann.
Georg bestellte im Internet extra Würfel, die in unterschiedlichen Farben leuchteten, wenn sie auf der Tischplatte auftrafen. Das fand er dem Anlass angemessen, denn schließlich war der Jahresurlaub doch etwas Besonderes und konnte nicht mit irgendwelchen abgegriffenen Holzklötzchen aus der Spieleschublade entschieden werden. Seine Frau fand die Idee gut und versuchte stets mit neuem Enthusiasmus und voller Hoffnung das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden.
Was Georg Elsbeth allerdings nicht verriet, war die Tatsache, dass die Würfel manipuliert waren. Einer würfelte nur Fünfen und Sechsen, der andere konnte hervorragend Einsen, Zweien, Dreien und Vieren anzeigen, jedoch keine höhere Zahl. Es war ziemlich klar, dass Georg den Fünfer-Sechser-Würfel benutzte und Elsbeth sich mit dessen kleinem Bruder abmühen musste.
„Da brat mir doch einer einen Storch!“, rief Elsbeth jedes Mal, wenn Georg wieder gewann und darüber entscheiden durfte, welche Berge sie im nächsten Urlaub erklimmen würden. Obwohl Georg Berge mochte, hatte ein bestimmter Gedanke nicht unerheblichen Einfluss auf seine Wahl des Urlaubsortes. Stets hoffte er, Elsbeth möge angesichts der erforderlichen sportlichen Leistung ein paar der Pfunde verlieren, die sie sich mit den Jahren angefuttert hatte. Vergeblich. Ihre Hüftknochen hatte er schon lange nicht mehr gesehen.
Alle vier oder fünf Jahre durfte Elsbeth mit dem Fünfer-Sechser-Würfel ihr Glück probieren. Nicht etwa, dass Georg Fairness walten lassen wollte. Soweit reichte die Liebe nicht mehr. Aber es wäre doch zu auffällig, wenn Elsbeth so gar nicht gewänne. Zweifel daran, dass die Würfel nicht richtig funktionierten, wollte er vermeiden. Das Opfer, drei Wochen faul an irgendeinem Strand herumzulungern, musste hin und wieder gebracht werden.
Wenn Elsbeth gewann, war der Jubel groß. Dann hüpfte sie wie ein Flummi um den Tisch, riss ihre Arme in die Höhe und ließ ihren Speck wackeln, dass die Schwarte krachte. Georg gönnte ihr die Freude und verbarg sein wölfisches Grinsen hinter einer enttäuschten Miene.
Inzwischen hatte das Walross den Absatz zwischen den Felsen erklommen, auf dem sich Georg ausruhte. Er bot Elsbeth seinen Platz an und registrierte, wie seine Frau sich umständlich auf der harten Unterlage zurechtrutschte. Man müsste doch erwarten können, dass Fettleibige genug Polster dabeihatten, um überall bequem sitzen zu können, dachte er.
Offensichtlich war dem nicht so, denn Elsbeth wurde alsbald unruhig. Sie schob die vor ihrer Brust baumelnde Kamera zur Seite, nahm ein paar Schlucke aus der Wasserflasche und sah Georg an. Ihr Gesicht war rot, wie ein Feuermelder. Zahlreiche Schweißtropfen perlten links und rechts über ihre Wangen. „Wie weit ist es denn noch? Ich kann bald nicht mehr!“
„Naja, demnächst muss der Aussichtspunkt kommen, von dem die Wirtsleute sprachen.“ Wohl wissend, dass Elsbeths Leistungsfähigkeit rapide sinken würde, wenn sie die Steigung überwinden musste, die direkt vor ihnen wartete, verschwieg Georg ihr nähere Einzelheiten. „Du wirst sehen, es lohnt sich!“ Vielleicht erlag seine Frau endlich den körperlichen Anstrengungen. Das würde Georg ohne schlechtes Gewissen zu einem reichen Witwer machen. Sie trug ja selbst Schuld an ihrem Zustand.
Elsbeth schien sich etwas erholt zu haben. Ein sicheres Zeichen dafür war der Griff zur Abdeckung des Objektives. „Georg, du siehst im Gegenlicht so jugendlich aus. Bleib mal da stehen! “
Die teure Kamera klickte. „Und jetzt spring runter dort. Ja, gut so!“
Wenigstens würden ihm die schönen Fotos bleiben, denn wenn Elsbeth eins konnte, dann fotografieren. Georg reckte die Brust etwas mehr heraus, zog den ohnehin flachen Bauch noch ein wenig mehr ein, lächelte und machte alle Verrenkungen, die gewünscht wurden. Klickklickklick.
Elsbeth deckte die Kamera wieder ab, wuchtete ihren Leib hoch und sagte: „Es kann weitergehen. Aber lauf nicht immer vorneweg.“
Wenn Georg auf den Berg stieg, entwickelte er seinen eigenen mediativen Rhythmus und blendete alle Störfaktoren, einschließlich Elsbeths Gejammere, aus. Als er an einem schmalen Stieg ankam, der direkt an einem steilen Abhang entlang führte, verschnaufte er kurz. Elsbeth war schräg unter ihm als blassblaue Kugel auszumachen. Sie quälte sich wie eine Schnecke den Berg hoch. Nur gut, dass niemand sonst in der Nähe war, der dieses Elend mit ansah.
Georg wusste, dass sie nie und nimmer aufgeben und alleine den Rückweg antreten würde. Dafür war Elsbeth viel zu ängstlich. Die Chancen, dass seine Frau angesichts der aktuellen Strapazen im Verlauf des heutigen Tages das Zeitliche segnen würde, standen deshalb ziemlich gut. Die Steigung bis zu seinem Standort war sogar für ihn anstrengend gewesen, obwohl sein dienstägliches Training im Fitnessstudio ihn bestens für so eine Tour gewappnet hatte.
Aus dem Schnaufen wurde ein schweres Keuchen. Elsbeths Kopf leuchtete vor dem Hintergrund der anthrazitfarbenen Felswand. Jeder Notarzt würde bescheinigen, dass sie sich körperlich komplett übernommen hatte. Sie war ja auch nicht die Jüngste. Ein Herzinfarkt war doch gar nicht mehr zu vermeiden, hoffte Georg.
Vielleicht sollte er ein wenig nachhelfen? Ungeduldig rief er: „Nun komm doch, streng dich etwas mehr an, Elsbeth.“
Elsbeth stützte sich auf einen ihrer beiden Wanderstöcke. Mit gesenktem Kopf versuchte sie, Luft in ihre Lungen zu pumpen. Das Zittern ihrer Beine war nicht zu übersehen.
Georgs Mitleidslevel lag ungefähr bei null. Wenn Elsbeth nicht so gut verdienen würde, hätte er sich schon längst scheiden lassen. Sie hatte das Autohaus ihres Vaters geerbt, was ihnen einen recht ordentlichen Geldsegen bescherte, den Elsbeth gern in ihre Ehe und die Familie investierte. Bei einer Scheidung ginge Georg allerdings leer aus, da Elsbeth die Firma alleine gehörte.
Zu sagen, dass Georg das Vertrauen seiner Frau missbrauchte und hinter jedem Rock her war, dessen er habhaft werden konnte, entspräche der reinen Wahrheit. Allerdings sah Georg sein Verhalten nicht im Lichte des Ehebruchs. Schließlich trug Elsbeth sehr dazu bei, dass sein sexuelles Verlangen nach ihr beizeiten erloschen war. Seine Gattin schien es zufrieden zu sein, weshalb Georg auch kein schlechtes Gewissen entwickelte. Allerdings war ihm eine der jungen Damen, mit denen er Elsbeths Geld verjuxte, inzwischen besonders ans Herz gewachsen. Deshalb wollte er nun ihren Abgang etwas forcieren, um das Liebesabenteuer mit Hildelinde, so hieß die Auserwählte, frei und ungezwungen genießen zu können. An Hildelindes Seite würde er sogar drei Monate am Strand herumliegen. Es kam eben immer nur auf die Aussicht an.
Er wollte gerade den schmalen Steig betreten, ohne Elsbeths Ankunft abzuwarten, da hörte er ihre Stimme.
„Georg, bitte warte.“
„Elsbeth, wenn du weiter so langsam bist, kommen wir nie an.“
„Warte doch mal. Hier ist es auch schon schön. Ich will noch ein paar Fotos von dir machen.“
Elsbeths Stimme war kaum zu verstehen, weil sie zwischendurch immer wieder nach Luft japste.
Wie satt Georg das hatte. Aber sie machte wirklich schöne Bilder. Er ließ den Blick schweifen. Im Hintergrund lagen die eindrucksvollen Gipfel der Berge. Als ob ein Riese ein Tischtuch zusammengeschoben, in Falten gelegt und mit Zucker bestäubt hätte. Atemberaubend!
Möglicherweise waren es ja die letzten Fotos, die seine Frau jemals schießen würde. Er sollte ihr den Spaß gönnen. Mit ihm im Vordergrund konnte das Gebirge nur noch schöner aussehen. Georg lächelte scheinheilig und reichte Elsbeth die Hand. „Na, nun komm schon. Du hast Recht, das werden bestimmt tolle Aufnahmen.“
Elsbeth, immer noch schnaufend, hob die Kamera vors Auge und gab Georg Anweisungen, wie er sich präsentieren solle. Dass ihre Hände von den Anstrengungen des Aufstiegs bebten, bekam Georg nicht mit.
„So, nun noch etwas seitlich. Kannst du dein Bein etwas nach unten stellen?“
Georg befolgte ihre Aufforderung, obwohl das an dieser Stelle nicht ganz ungefährlich war. Unter seinem Wanderschuh rollten ein paar Steinchen in den Abgrund.
„Weiter kann ich nicht, sonst rutsche ich ab.“
„Ist gut so, Georg. Ich komme jetzt ganz nah für ein paar Portraitaufnahmen. Das Licht hier ist bombastisch. Bleib da und rühr dich nicht. Du siehst toll aus!“
Georg hielt still und lächelte in die Linse. Elsbeth stand inzwischen recht dicht vor ihm. Er konnte die großporige Haut an ihrer Stirn erkennen und musste sich zusammenreißen, um sein Lächeln nicht zu verlieren. Sie winkte ihm mit der linken Hand.
„Jetzt reiß mal die Hände nach oben, als ob du der Herr der Welt bist.“
Georg gehorchte.
Den Stoß von Elsbeths freier Hand sah er nicht kommen.
Elsbeth sah zu, wie Georg in Richtung Tal kugelte. Sein Körper überschlug sich, schlug immer wieder auf kleineren Felsen auf und konnte keinen Halt finden. Als Georgs Kopf wie eine reife Melone aufplatzte, lächelte Elsbeth still. Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Die Bilder, wie Georg die Arme hochriss und sie entsetzt ansah, würden ihr irgendwann einen Preis bei einem Fotowettbewerb bringen. In einer Hand hielt sie die Kamera, mit der anderen kramte sie in ihrer Hosentasche und beförderte zwei Würfel zutage. Eben jene, mit denen Georg sie betrogen hatte. Sie war ihm auf die Schliche gekommen, als sie mit ihrem kleinen Enkel Elias würfeln wollte und sich dachte, dass das Leuchten der bunten Farben ihm Freude bereiten könnte. Zu entdecken, dass Georg sie all die Jahre um eine faire Chance für einen Urlaub am Meer betrogen hatte, glich einem tiefen Stich in ihr verwundetes Herz.
Sie hatte ihm die Evas und Monikas und wie sie alle hießen, verziehen. Selbst diese Hildelinde, an die er sich wie ein Affe klammerte, der Angst hatte, vom Baum zu fallen. Sogar Hildelinde verzieh sie ihrem Mann.
Was Elsbeth nicht verzeihen konnte, dass er sie selbst zum Affen gemacht hatte. Sie sah sich, wie sie um den Tisch tanzte, sich freute, endlich einmal wieder ans Meer zu fahren. Wie ein Kind hatte sie sich jedes Mal gefühlt, welches entdeckte, dass der Weihnachtsmann doch existierte. Die Aufregung, die Erwartung, wie die Würfel dieses Mal entscheiden würden, die Freude über den Sieg und die Genugtuung, dass Georg nun einmal ihren Wünschen folgen müsste, all dies hatte Georg ihr mit einem Schlag genommen und es ins Falsche verkehrt.
Elias zuliebe hatte sie ihre Emotionen unterdrückt, als sie den Betrug entdeckt hatte. Aber das Brodeln, diesen entsetzlichen Druck auf der Brust und die vielen Tränen der Enttäuschung, die später dann aus ihr herausgeflossen waren, die konnte Elsbeth nicht vergessen.
Sie betrachtete die beiden Würfel, die im Sonnenlicht grünlich glänzten und warf sie in hohem Bogen Georg hinterher.
„Mach´s gut, Georg.“