Praktikum
Nurola beugte sich vor und lenkte Twixels Aufmerksamkeit auf ein kleines Mädchen, das abseits von den spielenden Kindern saß. „Das ist Sylvia.“
Twixel riss die Augen auf. „Die ist aber noch ziemlich klein!“
„Ja, aber das tut nichts zur Sache. Du bist während deines Praktikums für sie zuständig. Ich bleibe noch eine Weile bei dir. Also schau, dass du nicht vergisst, was du gelernt hast.“
Twixel betrachtete die Szene, die sich vor ihm abspielte.
Sylvia saß auf der Treppe, die in eine Art Hinterhaus führte. Die roten Backsteine waren vom vielen Benutzen dunkel verfärbt und ausgetreten und das ehemals grüne Treppengeländer war rostzerfressen. Das kleine Mädchen sah traurig aus und das war wohl auch so, schließlich vergnügten sich die anderen Kinder damit, einen Federball über eine straff gespannte Wäscheleine zu schießen, während sie nur zusehen durfte. Warum das so war, konnte Twixel nicht erkennen. Vielleicht, wenn er sich zu Sylvia setzte? Er sah Nurola fragend an und als diese nickte, huschte er zu Sylvia hinüber und quetschte sich neben sie auf eine der Stufen. Sylvia bekam davon nichts mit, denn ausgebildete Schutzengel, so einer war Twixel oder wollte es werden, sind bekanntermaßen unsichtbar. Vielleicht spürte Sylvia einen warmen Windhauch. Sie sah einen Augenblick zur Seite und rutschte dann ein paar Zentimeter nach links, als wolle sie Platz schaffen.
Vom Nachbarhof schallten ebenfalls Kinderstimmen herüber. Immer wieder riefen sie den Satz „Herr Fischer, wie tief ist das Wasser?“
Twixel begriff nicht ganz, warum sie das riefen. Schließlich waren die Höfe hier hinter den Häusern nur gepflastert und von Wasser weit und breit keine Spur. Aus Sylvias sehnsüchtigem Blick folgerte er, dass es sich um ein Spiel handeln musste, bei dem sie gerne dabei sein würde. Schade nur, dass es nicht die Aufgabe von Schutzengeln war, die Sehnsüchte ihrer Schutzbefohlenen zu erfüllen. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, die Kleine hinüber in den anderen Hof zu bringen. Schwupps, einmal mit dem Finger schnippen und …
Sylvia wandte sich wieder dem Geschehen im eigenen Hof zu. Zwei Mädchen standen links der Wäscheleine, ein Junge und ein weiteres Mädchen verteidigten rechts das Feld und passten auf, dass der Federball nicht die Erde berührte. Flankiert wurden die Spielfelder von zerbeulten Mülltonnen und einem Häufchen Gerümpel, was aber niemanden zu stören schien. Sie hatten offensichtlich viel Spaß, lachten und warfen sich freche Sprüche an den Kopf. Niemand beachtete das kleine Mädchen neben Twixel.
Für einen Moment hatte Twixel das Gefühl, es könnte etwas nicht in Ordnung sein. Zwar wollte er gerne das Spiel verfolgen, aber er durfte natürlich seine Aufgabe nicht vergessen. Schon gar nicht, wenn Nurola in der Nähe war. Sie hatte ihn gründlich ausgebildet und er wollte ihr keine Schande bereiten. Schutzengel zu sein, war von jeher sein Traum und beileibe nicht jeder wurde dafür ausgewählt, soviel stand fest. Es war eine Ehre, die Menschen zu beschützen, auch wenn manche Zeitgenossen es ihren Engeln schon recht schwer machten.
Sylvias Sicherheit war dagegen eine leichte Angelegenheit. Sie saß ja hier ganz friedlich und stürzte sich nicht etwa auf einem Mountainbike einen steilen Hang hinab.
Dennoch wollte das Gefühl nicht aus Twixels Bauch weichen. Er ließ seine Blicke schweifen, registrierte die abblätternde Farbe an der Haustür, die großen Flecken an der Wand, denen der Putz fehlte und die aus dem wohl einst sehr schönen Haus etwas machten, in dem ärmere Familien wohnten, aber er konnte darüber hinaus keine Gefahr erkennen. Das Lachen der beiden Mädchen links riss ihn aus seinen Gedanken. Die eine hatte der anderen im Eifer des Gefechts den Schläger auf den Kopf gehauen und erntete nun spöttische Kommentare von der Gegenseite. Sogar Sylvia lächelte. Das fühlte sich für Twixel ganz warm an, obwohl er noch keine innere Verbindung zu ihr hatte. Er mochte sie, weil sie, so schien es, ein sehr liebes Kind war, das sich an der Freude der anderen laben und darüber das eigene kleine Unglück ein wenig vergessen konnte.
Der Knoten in Twixels Bauch wurde dessen ungeachtet immer größer und schwerer, genauso, wie Nurola es beschrieben hatte. Es quetschte ihm die Luft aus den Lungen, als würde sich gerade ein Elefant auf seinen Brustkorb setzen. Hilfesuchend wandte er sich um und da sah er ihn über Sylvias Kopf: einen Dachziegel. Er musste sich aus dem maroden Dach gelöst haben und fiel nun direkt auf das Kind. Twixel hob die Hand, die sich ebenfalls anfühlte, als sei ein Elefant daran festgebunden und stoppte die Zeit.
Die Kinder im Hof verharrten in den Stellungen, in denen sie sich gerade bewegt hatten. Das eine Mädchen schwebte inmitten ihres Sprungs in der Luft. Sylvia, die in diesem Moment vor Vergnügen die Augen zusammengekniffen hatte, verharrte in dieser Grimasse und sogar die Rufe aus dem Nachbarhof blieben in der Zeit kleben. „…Fiiischeeeer…“.
Den fallenden Dachziegel um einige Zentimeter nach rechts zu bewegen, damit er Sylvia nicht traf, kostete Twixels gesamte Kraft. Er hätte hinterher nicht sagen können, welche Mächte ihm da beigestanden hatten. Etwas durch die Zeit zu schieben, war für Anfänger wie ihn nahezu unmöglich, aber Twixel gelang es. Einen Augenblick später lief die Zeit von alleine weiter. Der Dachziegel krachte neben Sylvia auf die Treppe. Das Mädchen erschrak und sprang auf. Die Spielerin, die mitten im Sprung hängen geblieben war, landete auf dem Boden und von nebenan ertönte: „…wie tief ist das Wasser?“
Stolz durchflutete den jungen Schutzengel. Vor lauter Freude wurden seine Ohren rot. Er hatte es geschafft!
Nurola zog Twixel auf die Füße. „Gut gemacht. Aber du kannst es besser. Ich weiß das.“
Ihr Lob tat ihm gut und haftete dennoch wie schlechter Leim an ihm. Twixel senkte den Kopf. Ja, er hätte die Gefahr vorhersehen können, wenn er nicht so abgelenkt gewesen wäre. Trotzdem war er froh, dass er Sylvia gerettet hatte.
„Schau mich an, Twixel.“ Nurolas Stimme war sanft und klang gar nicht vorwurfsvoll. Es fiel ihm dennoch schwer, ihr in die Augen zu sehen. Ihr Blick war ernst, aber freundlich. „Du bist ein guter Schutzengel, du wirst ein noch besserer sein. Das weiß ich. Dein Vorgänger hat die Aufgabe leider nicht gelöst, deshalb, schau…“
Twixel wandte den Kopf und sah, wie Sylvia sich in Luft auflöste.