Leseproben/Kurzgeschichten
Wie die Würfel fallen
Georg hörte Elsbeths Schnaufen, obwohl sie inzwischen etwa 20 Meter hinter ihm zurückgeblieben war. Es klang, als ob ein Walross verenden würde.
„Verdammt Georg, nun warte doch mal auf mich!“
Elsbeths Stimme hatte einen Ton angenommen, den Georg nach fast 42 Ehejahren recht gut zu deuten wusste. Sie war erschöpft, ungehalten, weil er stets vornweg turnte, und nörgelig, weil sie viel lieber am Strand oder in einer Hängematte unter Palmen liegen würde. Stattdessen musste sie mit ihm die Sommerferien in den Bergen verbringen. Nun, die Würfel hatten darüber entschieden. Daran gab es nichts zu rütteln.
Georg liebte die Berge, Elsbeth liebte Strand und Meer. Vor langer Zeit hatten sie deshalb vereinbart, dass sie um das Ziel ihres Sommerurlaubs würfeln würden. Wer die höhere Summe erspielte, gewann.
Georg bestellte im Internet extra Würfel, die in unterschiedlichen Farben leuchteten, wenn sie auf der Tischplatte auftrafen. Das fand er dem Anlass angemessen, denn schließlich war der Jahresurlaub doch etwas Besonderes und konnte nicht mit irgendwelchen abgegriffenen Holzklötzchen aus der Spieleschublade entschieden werden. Seine Frau fand die Idee gut und versuchte stets mit neuem Enthusiasmus und voller Hoffnung das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden.
Ruhe sanft
„Ach“, sagte die alte Dame begeistert. „Ist es hier nicht wie im Paradies?“
Manfred Strusella sah sie benommen an. Paradies? Dies hier?
Verzweifelt schloss er die Augen und versuchte, den dicken Kloß in seinem Hals herunter zu schlucken. Sein erster Schrei bahnte sich den Weg durch seine Kehle, ein Schrei wie ihn der Ort noch nie gehört hatte. Und noch ein Schrei, gellend, unmenschlich, gefolgt von einer Serie von Lauten, die dieses scheinheilige Städtchen erschütterten. Strusella konnte gar nicht wieder aufhören.
Vöglein
Bernard schob die falschen Zähne noch einmal zurecht und lächelte sich zufrieden im Spiegel zu. An dessen Seite klebte das großformatige Bild des Henry Satuffé, dem Bernard dank seines Könnens inzwischen sehr ähnlich sah. Der eigentliche Träger des Namens Satuffé lag, mit Klebeband gekonnt verschnürt, im Kleiderschrank seines Hotelzimmers im „Vier Jahreszeiten“, wo er auch die nächsten 12 Stunden zubringen würde.
Tatsächlich stand ihm, wie Bernard bei einem letzten Blick in den Spiegel fand, das grau gefärbte Haar gut und verlieh ihm den gewünschten seriösen Anstrich. Perfekt.
Stille
Susans sorgsam gehegtes Universum verschob sich zum ersten Mal, als ihr Fahrrad mit einem Stein kollidierte und sie in hohem Bogen in eine andere Welt katapultierte. Natürlich waren die erlittenen Verletzungen äußerst schmerzhaft. Noch schmerzhafter war jedoch die Gewissheit, in der nächsten Zeit auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Nicht, dass Susan eine Misanthropin wäre, aber sie hatte das Heft schon gerne in der Hand und bestimmte selbst, wer in ihrem Dunstkreis verweilen durfte.
Vielleicht war Susans Widerwille gegen die erzwungene Nähe zu anderen Patienten, Pflegekräften und Ärzten der Motor für ihre schnelle Wiederauferstehung nach der Operation. Bereits zwei Tage später begann sie mit den ersten Rundgängen durch das Krankenhaus. Zwar begegneten ihr auch dort Menschen, aber denen konnte sie gut ausweichen und glücklicherweise gab es genug stille Ecken, in denen sie das Alleinsein genießen konnte.
Das Ding
Ich liebe Geschenke.
Sie müssen nicht groß sein, auch kleine Geschenke machen mir durchaus Freude. Ihr Preis ist nebensächlich. Mehr Wert lege ich darauf, dass das Präsent von Herzen kommt und der Schenkende sich etwas dabei dachte, als er es auswählte.
So habe ich mich einmal mordsmäßig über ein Buch meines Lieblingsautors gefreut, von dem ich gar nicht wusste, dass es existierte. Dieses Buch stellte alle anderen Geschenke in den Schatten und ich kann euch verraten, die waren auch nicht von Pappe!
Natürlich gefällt mir nicht jedes Geschenk, selbst wenn es mit Herzblut beschriftet ist. Und natürlich würde ich niemals aussprechen, dass mir etwas nicht gefällt, was ein anderer mit Bedacht und vielleicht auch Liebe ausgewählt hat.
Es ist noch gar nicht so lange her
Es ist noch gar nicht so lange her, da lebten im Fünferland, das wie eine Insel zwischen dem Zwölfer- und dem Neunerland liegt, fünf Zwerge.
Maxel, Schnurpel, Tippsi, Kracher und Butzel, so hieß der Kleinste von ihnen, wohnten fernab von ihren Zwergenfamilien. Tagein tagaus gingen sie in den Wald und fällten Bäume und wer weiß, wie schwer die Arbeit für große Menschenleute ist, der kann gut nachvollziehen, wie hart sie schuften mussten. Schließlich maß der Größte unter ihnen, Schnurpel, gerade einmal zwei Spannen. Oder anders ausgedrückt: einem Menschenmann reichte Schnurpel nicht ganz bis zum Gürtel, während Butzel die Kniescheibe eines Menschenmannes sehr sehr gut aus Augenhöhe studieren konnte.