Leseproben/Kurzgeschichten
Die Teeflasche
Unsere Klasse bestand aus siebenundzwanzig Mädchen und zwei Jungen – eine Konstellation, die zumindest für die beiden männlichen Vertreter eine Herausforderung gewesen sein dürfte. Ich kann das nicht so beurteilen, weil ich eine von den siebenundzwanzig jungen Damen war und entsprechend in der Masse unterging, aber die Annahme, dass es nicht so einfach war, sich gegen eine solche Übermacht zu behaupten, liegt nahe und wird von den nachfolgend geschilderten Ereignissen ganz gut illustriert.
Man kann sich vorstellen, dass die beiden jungen Männer täglich genauer beäugt wurden. Schließlich waren wir alle zwischen sechzehn und siebzehn und damit in der Phase, in der wir uns selbst profilieren und gleichzeitig Genaueres über die Reaktionen und Befindlichkeiten des anderen Geschlechts in Erfahrung bringen wollten.
Wer jetzt erwartet, dass Frank und Frank romantisches Interesse weckten, den muss ich leider enttäuschen. Der eine Frank war recht klein und zierlich, zudem mit einer Behinderung versehen, die ihn wenig attraktiv machte. Aber er war ein pfiffiger, anpassungsfähiger Kerl, der wusste, wie man sich beliebt machte.
Der andere Frank war zwar körperlich nicht versehrt, aber vom Wesen her sehr ungelenk und daher nicht in der Lage, uns lange standzuhalten. Von ihm handelt diese Geschichte.
Die Anderen
Ich sitze mitten in der Stadt und sehe mir die Leute an, die an mir vorbei laufen. Manche geschäftig, andere wieder geruhsam, die nächsten gedankenverloren oder einfach nur in Eile, den schönen Frühlingstag gar nicht wahrnehmend.
An meinem Platz scheint mir die Sonne auf die Nase. Ein laues Lüftchen streichelt mein Gesicht und sagt mir, was für ein toller Tag das sein könnte.
Beim Anblick der vielen Leute denke ich darüber nach, wie es wäre, in einer anderen Haut zu stecken.
Vielleicht ist das dort eine geeignete Kandidatin? Ihr Gesicht ist fröhlich. Sie telefoniert und ich sehe ihr an, dass sie glücklich ist. Wenn ich in ihre Haut schlüpfen würde, erwartet mich dann die Liebe, nach der ich mich so sehne?
Oder da, die beiden Asiatinnen. Ihre Augen strahlen. Sie kichern und schnattern in ihrem Singsang, lachen und sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich nicht sehen, obwohl sie mich fast streifen.
Ich schaue ihnen hinterher und versuche, mich über ihre Zweisamkeit zu freuen. Es gelingt mir nur ein kleines bisschen. Zu sehr bin ich mit meiner eigenen Haut verwachsen.
Ein Hund namens Benno
Heide angelte mit dem Fuß nach ihrem Pantoffel, der sich ihren Bemühungen zum Trotz immer weiter unter das Sofa schob. Schlaftrunken gähnte sie. Irgendetwas hatte sie geweckt.
Sie war gegen sieben Uhr vom Dienst nach Hause gekommen und wollte sich nur kurz bei einem Tee auf dem Sofa entspannen. Offensichtlich war sie eingeschlafen, bevor sie auch nur einen Schluck aus der Tasse genommen hatte, die sie nun anklagend ansah. Inzwischen war der Tee natürlich kalt.
„Komm her, du Biest“, schimpfte Heide und kniete sich in den Spalt zwischen Sofa und Tisch. „Da bist du ja!“
Triumphierend zog sie den widerspenstigen Pantoffel aus der Dunkelheit und angelte gleich noch zwei Chips hervor, die es sich dort ebenfalls gemütlich gemacht hatten. In diesem Moment ertönte ein Geräusch. Etwas kratzte an ihrer Haustür.
Brummelnd stemmte Heide sich hoch, steckte den Fuß in den abtrünnigen Hausschuh und ging zur Tür. Durch die Scheibe sah sie das draußen tobende Schneegestöber. Dicke Wolken verdunkelten den Tag. Es konnte doch noch nicht Nachmittag sein, oder?
Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigte, dass es erst kurz vor Zwölf war.
Mein Pech und dein Glück
Aus Vernas Ecke klang helles Lachen. Ich merkte direkt, wie mir ein Hauch Missmut übers Gesicht flog.
Schon wieder.
Ich hatte die Nase gestrichen voll. Vernas Frohnatur war nicht tot zu kriegen, während bei mir selbst alles schief lief. Immer.
In Vernas fröhliche Laute mischte sich das Lachen der Kolleginnen. Wieso fand sich eigentlich niemand, der mit mir lachen wollte?
Resigniert schüttelte ich den Kopf. Natürlich war Verna meine beste Freundin und ich mochte sie sehr. Dies hielt mich jedoch nicht davon ab, einen hässlichen Neid auf Verna zu entwickeln. Ich wünschte so sehr, ich könnte diesen Neid auf sie unterdrücken. Aber das bekam ich beim besten Willen nicht hin, was meinen Ärger über mich selbst regelmäßig steigerte.
Verna hatte immer Glück, während meine Pechsträhne gar nicht wieder aufhören wollte. Schon in der Schulzeit war das so. Wenn ich mir bei der ersten Gelegenheit einen Wadenkrampf zuzog, glänzte Verna mit sportlichen Leistungen. Schrieb Verna in der Klausur die volle Punktzahl, verfehlte ich die guten Noten um einen Punkt. Vernas Brüste waren zuerst gewachsen und ich wurde lange nur als Plättbrett bezeichnet. Das erklärte auch, warum Verna bei den Jungs gefragter war als ich. Später hatte Verna sich dann in Bruno verliebt. Der sah zwar nicht besonders gut aus, war aber charmant und liebte Verna nach sieben Ehejahren und zwei Kindern immer noch wie am ersten Tag. Wie jedoch zu erwarten war, hockte ich mit achtundzwanzig allein zu Hause herum und sehnte mich nach einer eigenen Familie, die noch nicht mal annähernd in Sichtweite kommen wollte. Es war zum Verzweifeln!
Ich seufzte. Natürlich hörte es mal wieder niemand. Heute Morgen war mir aus Versehen eine Tasse Kaffee umgekippt. Anschließend musste ich zum Protokoll in die Chefetage, wo mein durchnässter Rock mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wurde. Immer passierten solche Missgeschicke nur mir. Die Kollegen grinsten hämisch, als ich vorbeilief und mir entging das nicht. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihnen allen mal richtig in den Hintern getreten. Wenigstens verbal. Aber dazu fehlte mir der Mumm.
Fifty-fifty
Helene schob die Brille hoch und betrachtete das Exemplar, das verdächtig nach einem Knollenblätterpilz aussah, von allen Seiten. Wenn sie jung waren, konnte man sie schnell mit einem Champignon verwechseln. Helene schnupperte an dem Pilz. Er roch gar nicht schlecht, leicht nach Honig. Vorsichtshalber legte sie ihn trotzdem zur Seite. Man konnte ja nie wissen.
Luzie hatte ihr heute Morgen das Körbchen voll Champignons gebracht. Sie wusste, dass Helene keine Pilze aß, aber sie hatte extra für Hubert gesammelt. „Beste Grüße an das Faultier. Vielleicht wird er nach einem deftigen Mittagessen ja etwas munterer.“
Helene lächelte. Die liebe Luzie. Sie hatte sich in den letzten Monaten zu einer guten Freundin gemausert und da sie gleich nebenan wohnte, konnte Helene ihr schnell mal das Herz ausschütten, wenn sie es mit Hubert gar nicht mehr aushielt. Luzie hörte einfach zu und sparte sich dumme Ratschläge. Das war heutzutage Gold wert, wo jedermann dachte, er hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Hubert war immer noch nicht wach. Helene presste ärgerlich die Lippen zusammen, während ihr Messer kleine Unreinheiten von den Pilzen schabte und den Stielansatz wegschnitt.
Seit Hubert im Ruhestand war, entwickelte er sich immer mehr zum Langschläfer und Morgenmuffel und entsprach damit so ganz und gar nicht den Vorstellungen seiner Ehefrau, die sich entgegen aller Warnzeichen einen energiegeladenen und unternehmungslustigen Rentner an ihrer Seite vorgestellt hatte. Bei genauer Betrachtung war es nur Helenes sonnigem Gemüt zu verdanken, dass ihr Zusammenleben noch irgendwie einer Ehe ähnelte. Hubert beteiligte sich überhaupt nicht an irgendwelchen Aktivitäten, ließ sich von ihr bedienen und verlor allem Anschein nach, Stück für Stück jeglichen Anstand.
Die Fliegenklatsche
Katastry Bollardshyk, den seine Kameraden schlicht Katsy Bo nannten, starrte auf das Ding, das dort aus dem Hügel ragte. Es glänzte verheißungsvoll im Lichtschein des gelben Zwerges. Silbern, elegant geformt und wunderschön.
Sie hatten wegen eines Defekts auf dem blauen Urbs eine Zwischenlandung eingelegt. Das ging, seitdem die Strahlung nach der Katastrophe und den nachfolgenden Räumarbeiten wieder ein erträgliches Maß angenommen hatte. Zwar war der blaue Urbs schon lange nicht mehr blau, aber sein ursprünglicher Name blieb ihm erhalten. Katsy fand das ganz charmant und stellte sich gern vor, wie der Urbs früher ausgesehen haben mochte.
Während Pi Daslow die Reparatur am Schiff erledigte, waren Katsy und die anderen auf der Suche nach einem Souvenir ausgeschwärmt. Und da war er auf dieses Ding gestoßen. Es sah aus, wie eine überdimensionale Fliegenklatsche.
Praktikum
Nurola beugte sich vor und lenkte Twixels Aufmerksamkeit auf ein kleines Mädchen, das abseits von den spielenden Kindern saß. „Das ist Sylvia.“
Twixel riss die Augen auf. „Die ist aber noch ziemlich klein!“
„Ja, aber das tut nichts zur Sache. Du bist während deines Praktikums für sie zuständig. Ich bleibe noch eine Weile bei dir. Also schau, dass du nicht vergisst, was du gelernt hast.“
Twixel betrachtete die Szene, die sich vor ihm abspielte.
Sylvia saß auf der Treppe, die in eine Art Hinterhaus führte. Die roten Backsteine waren vom vielen Benutzen dunkel verfärbt und ausgetreten und das ehemals grüne Treppengeländer war rostzerfressen. Das kleine Mädchen sah traurig aus und das war wohl auch so, schließlich vergnügten sich die anderen Kinder damit, einen Federball über eine straff gespannte Wäscheleine zu schießen, während sie nur zusehen durfte. Warum das so war, konnte Twixel nicht erkennen. Vielleicht, wenn er sich zu Sylvia setzte? Er sah Nurola fragend an und als diese nickte, huschte er zu Sylvia hinüber und quetschte sich neben sie auf eine der Stufen. Sylvia bekam davon nichts mit, denn ausgebildete Schutzengel, so einer war Twixel oder wollte es werden, sind bekanntermaßen unsichtbar. Vielleicht spürte Sylvia einen warmen Windhauch. Sie sah einen Augenblick zur Seite und rutschte dann ein paar Zentimeter nach links, als wolle sie Platz schaffen.