Mein Pech und dein Glück
Aus Vernas Ecke klang helles Lachen. Ich merkte direkt, wie mir ein Hauch Missmut übers Gesicht flog.
Schon wieder.
Ich hatte die Nase gestrichen voll. Vernas Frohnatur war nicht tot zu kriegen, während bei mir selbst alles schief lief. Immer.
In Vernas fröhliche Laute mischte sich das Lachen der Kolleginnen. Wieso fand sich eigentlich niemand, der mit mir lachen wollte?
Resigniert schüttelte ich den Kopf. Natürlich war Verna meine beste Freundin und ich mochte sie sehr. Dies hielt mich jedoch nicht davon ab, einen hässlichen Neid auf Verna zu entwickeln. Ich wünschte so sehr, ich könnte diesen Neid auf sie unterdrücken. Aber das bekam ich beim besten Willen nicht hin, was meinen Ärger über mich selbst regelmäßig steigerte.
Verna hatte immer Glück, während meine Pechsträhne gar nicht wieder aufhören wollte. Schon in der Schulzeit war das so. Wenn ich mir bei der ersten Gelegenheit einen Wadenkrampf zuzog, glänzte Verna mit sportlichen Leistungen. Schrieb Verna in der Klausur die volle Punktzahl, verfehlte ich die guten Noten um einen Punkt. Vernas Brüste waren zuerst gewachsen und ich wurde lange nur als Plättbrett bezeichnet. Das erklärte auch, warum Verna bei den Jungs gefragter war als ich. Später hatte Verna sich dann in Bruno verliebt. Der sah zwar nicht besonders gut aus, war aber charmant und liebte Verna nach sieben Ehejahren und zwei Kindern immer noch wie am ersten Tag. Wie jedoch zu erwarten war, hockte ich mit achtundzwanzig allein zu Hause herum und sehnte mich nach einer eigenen Familie, die noch nicht mal annähernd in Sichtweite kommen wollte. Es war zum Verzweifeln!
Ich seufzte. Natürlich hörte es mal wieder niemand. Heute Morgen war mir aus Versehen eine Tasse Kaffee umgekippt. Anschließend musste ich zum Protokoll in die Chefetage, wo mein durchnässter Rock mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wurde. Immer passierten solche Missgeschicke nur mir. Die Kollegen grinsten hämisch, als ich vorbeilief und mir entging das nicht. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihnen allen mal richtig in den Hintern getreten. Wenigstens verbal. Aber dazu fehlte mir der Mumm.
Verna ging mit den gelegentlichen Tapsigkeiten, die ihr unterliefen, ganz locker um. Meist lachte sie und riss Witze, so dass sie die anderen zum Lachen brachte.
Ich hatte das auch versucht, aber ein abgebrochener Absatz oder der obligatorische Fleck auf der Bluse konnten mir kein fröhliches Lächeln entlocken. Ich war eben einfach nur ein Pechvogel.
Wenn doch Verna endlich auch einmal richtig Pech haben würde! Vielleicht könnte ich mich dann ein bisschen besser fühlen und meinem Glück eine Chance geben, damit es sich nicht sogleich wieder Verna zuwenden würde.
Als Bruno am Sonntag anrief und mit bebender Stimme von Vernas Unfall berichtete, glaubte ich zunächst an einen bösen Scherz. Wie hatte Verna von meinen Gedanken erfahren? Oh Gott! Standen sie mir so deutlich ins Gesicht geschrieben?
„Nein“, beteuerte Bruno. „Ich mache keinen Scherz! Verna liegt im Krankenhaus. Sie hat mehrere Knochen gebrochen. Und ich weiß nicht weiter!“
„Aber …“, stotterte ich.
„Du musst mir helfen!“
Ich war immer noch fassungslos. Erst Brunos drängendes: „Bitte!“ schreckte mich aus meinen Gedanken. „Ja, aber was soll ich denn tun?“
„Ach Ulla. Du könntest uns wirklich helfen. Die Kinder habe ich schon untergebracht, bei jeder Oma eins. Aber Snowy!“
Snowy war Vernas dreijährige Retrieverhündin. Den Namen verdankte sie ihrem fast weißen Fell. „Ich habe niemanden, der Snowy hütet“, drängte Bruno. „Und morgen fliege ich doch nach London, für vier Wochen! Das kann ich nicht absagen, mein Job hängt dran.“
„Ja, ja. Natürlich kann ich mich um Snowy kümmern.“
Ich wusste zwar nicht, wie ich das hinbekommen sollte, schließlich kannte ich mich mit der Haltung eines Hundes überhaupt nicht aus. Aber kneifen kam nicht in Frage. Schließlich
hatte Verna mich noch nie im Stich gelassen. Nicht einmal nach dem blöden Streit, als sie mir vorgeworfen hatte, eine üble Pessimistin und Heulsuse zu sein, die das Glück nicht mal sehen würde, wenn sie gerade darüber stiege. Verna hatte ja gut reden!
Am Abend saß ich Auge in Auge mit Snowy, die ich mitsamt Hundekörbchen und Futternapf zu mir geholt hatte. Bruno hatte mir das Versprechen abgenommen, Verna täglich über Snowys Befinden zu informieren. Da ich ohnehin plante, mich regelmäßig bei Verna zu melden, fiel mir die Zusage nicht schwer. Und nun saß ich hier vor einem wirklich großen Hund. Snowy hatte die Lefzen leicht hochgezogen, zeigte ihre prächtigen Fangzähne und ließ die Zunge heraushängen. Sie lachte mich tatsächlich an.
Meine Laune besserte sich augenblicklich. Immer noch hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber vielleicht konnte ich meine bösen Gedanken jetzt ein bisschen wieder gut machen.
Die Umstellung meines Tagesablaufes auf Snowys Versorgung verlief wider Erwarten problemlos. Mir beziehungsweise uns standen aufregende Wochen bevor. Ein bisschen unheimlich war mir das schon, aber ich hatte alles genau geplant.
Als Frühaufsteherin drehte ich die erste kleine Runde mit Snowy frühzeitig, gegen sechs Uhr.
In der Mittagspause würde ich dann schnell nach Hause flitzen, Snowy noch auf ein Ründchen ausführen und abends sollte es auf die Hundewiese gehen.
Erfreut registrierte ich, dass die Kollegen mich heute häufig aufsuchten. Schließlich war ich die Erste und Einzige, die etwas über Vernas Unfall wusste. Ich genoss die viele Aufmerksamkeit und wurde nicht müde, alles ein wenig auszuschmücken und ganz nebenbei einfließen zu lassen, wie selbstlos ich die Pflege des Hundes übernommen hatte. Wenn ich jetzt nicht meinen Status in der Abteilung verbesserte, wann sonst?
Sogar der Chef, sonst ein rechter Griesgram im Umgang mit mir, lächelte mich mehrfach freundlich an. Ich fühlte mich wohl. Endlich einmal wurde ich beachtet und die Kollegen nickten mir aufmunternd zu, wenn ich über den Flur ging. An diesem Tag passierten mir nur ein paar kleine Missgeschicke, die mein Hochgefühl nicht beeinträchtigen konnten.
Ich freute mich tatsächlich schon auf den nächsten Arbeitstag. Wer hätte das gedacht?
Bruno hatte gesagt, dass ich Verna erst am Dienstag anrufen solle. „Die ersten Nachwirkungen der Operation hat sie dann schon überstanden“, war Brunos Meinung. Als ich am Dienstag das Telefon in die Hand nahm und verkündete, dass ich Verna anrufen wolle, sammelten sich die Kollegen in meiner Nähe und spitzten die Ohren.
„Hallo Verna. Ulla hier.“
Vernas Stimme war etwas kratzig. „Oh Ulla. Das ist lieb. Toll, dass du Snowy hütest. Ich bin wohl zurzeit nicht so gut drauf!“ Sie kicherte.
Mir verschlug es fast die Sprache. Ich hatte ein Häufchen Elend erwartet, aber Verna machte durchaus einen munteren Eindruck.
„Ach weißt du, ich hatte ja Glück im Unglück. Hätte mir auch den Hals brechen können. So ging es ja grade noch mal gut ab und was das Beste ist, ich habe den Besuch meiner Schwiegermutter verpasst. Hoho, wie traurig!“ Verna holte schniefend Luft. „Obwohl ich ganz schöne Schmerzen habe. Vor allem beim Lachen. Was meinst du, wie lustig es hier ist. Ich habe tolle Zimmernachbarinnen. Alle irgendwie beschädigt…“ Im Hintergrund hörte ich ein Lachen und gleichzeitig Vernas Stöhnen. „Ich sollte lieber keine Witze machen.“
Nur wegen der Kollegen riss ich mich zusammen. Am liebsten hätte ich den Kopf geschüttelt und die Tischkante malträtiert. Wie konnte man derart von der Treppe stürzen und dann noch von Glück reden? Das wollte nicht in mein Hirn. Ich selbst wäre in tiefe Depressionen versunken und hätte tagelang darüber nachgedacht, warum ausgerechnet mich solch ein Pech ereilte.
Vielleicht machte ich wirklich etwas falsch?
Snowy munterte mich wieder auf. Gutes Mädchen. Sie schien Verna nicht sonderlich zu vermissen. Zwar starrte sie hin und wieder auf die Tür, als ob bald jemand hereinkäme. Gleich anschließend holte sie sich jedoch ihre Schmuseeinheiten bei mir und stupste mich mit ihrer feuchten Nase an, wenn ich mit dem Kraulen aufhören wollte. Wir verstanden uns prima.
Jeden Tag telefonierte ich mit Verna und schickte ihr Bilder von Snowy. Ich wünschte ihr wirklich nur Gutes, aber hin und wieder kam mir der Gedanke, dass Vernas Unfall mein eigenes Leben zum Positiven verändert hatte.
Die Kollegen waren freundlicher zu mir und wenn ein kleines Missgeschick passierte, konnte ich zumindest darüber lächeln und auch die üblichen Scherzworte mit einem Grinsen ertragen.
Die langen Runden mit dem Hund gaben mir das Gefühl von mehr Lebendigkeit. Selbst als Snowy mich beim Spielen ansprang und zu Boden stieß, konnte ich nicht böse sein. Snowy hüpfte ganz aufgeregt um mich herum, leckte mir das Gesicht und schon verflog der erste Ärger. Ich konnte sogar lachen und merkte, wie gut das tat. Ein paar andere Leute im Park grinsten mich ebenfalls freundlich an. Später merkte ich, dass Snowy ihre beiden schlammigen Tatzen auf meiner Brust verewigt hatte, was wohl die Ursache für die lächelnden Blicke der Anderen gewesen war. Kurz stieg Ärger in mir auf, aber als ich Snowy in ihr treues Gesicht sah, verflog er im Nu.
Über ein Missgeschick zu lachen, war gar nicht so schwer. Fast hatte ich Angst, dass ich diese Fähigkeit wieder verlieren könnte, wenn Verna aus dem Krankenhaus entlassen würde.
In der vierten Woche lernte ich Stefan und Jojo kennen. Der schwarze Labradorrüde verliebte sich sofort in Snowy. Wie Stefan versicherte, war Jojo von Adel. Das brachte mich zum Lachen. „Ich glaube, Snowy ist auch von Adel. Agathe sowieso.“ Ich musste schon wieder kichern. Als ob es darauf ankäme.
Stefan wirkte so schüchtern, dass ich es geradezu als Herausforderung sah, ihn aufzutauen. Von da an trafen wir uns täglich auf der Hundewiese und plauderten, während Jojo und Snowy miteinander spielten und in den Büschen herumschnüffelten. Ich stellte fest, dass Stefan und ich unheimlich viel Gesprächsstoff hatten. Wir mochten beide historische Romane, liebten das Schwimmen und verbrachten unsere jeweiligen Urlaube häufig in den Bergen. Manchmal sahen wir uns in die Augen und staunten darüber, warum wir uns nicht eher begegnet waren. Ich freute mich auf jedes Wiedersehen und genoss, wie die Schmetterlinge in meinem Bauch immer kräftiger mit den Flügeln schlugen. Es war ein schönes Gefühl. Aber ich wusste nicht, ob Stefan genauso fühlte, wie ich. Irgendetwas sagte mir, dass er den ersten Schritt tun müsse.
Als Bruno mich anrief und fragte, ob ich Snowy noch ein wenig behalten könne, war ich glücklich. Es ging mir noch nie so gut, wie in letzter Zeit. Meine alte Pechsträhne war abgerissen und manchmal überlegte ich, ob es je eine Pechsträhne gegeben hatte oder ob ich vorher einfach nur unzufrieden war.
In der sechsten Woche kam Verna nach Hause. Snowy blieb noch bei mir, um Verna zu schonen. Längst traf ich mich mit Stefan und Jojo nicht nur auf der Hundewiese, sondern auch im naheliegenden Wäldchen. Oft hatten wir einen Picknickkorb dabei, in dem natürlich nicht nur Hundekekse drin waren. Stefan konnte wunderbare Brötchen und leckere kleine Küchlein backen und ich bereitete frische Salate zu und suchte immer eine ganz neue Käsesorte aus, die wir dann wie die Feinschmecker verkosteten. Es war herrlich!
In der achten Woche küsste Stefan mich das erste Mal. Und wie er küssen konnte! Ich war im siebenten Himmel. Nein, wir waren gemeinsam dort.
In der zehnten Woche stellte der Tierarzt fest, dass Snowy schwanger war. Es war uns völlig entgangen, dass auch die Hunde ihr Vergnügen gehabt hatten. Wie peinlich!
Verna lachte nur darüber. Wahrscheinlich amüsierte sie sich über unsere betretenen Gesichter mehr, als über das Missgeschick selbst. Sie scherzte: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich sooo schnell Großmutter werde.“
Am Tag, an dem Snowy vier süßen schwarz-goldigen Welpen das Leben schenkte, stand fest, dass Stefan und ich zusammenbleiben würden. Die Schmetterlinge hatten meine Ängste mit sich genommen, wie der Wind ein welkes Blatt Papier.
Ich freute mich riesig, als Verna mir den süßesten Welpen versprach. Ganz fest drückte sie mich dabei an sich und flüsterte mir ins Ohr: „Mein Pech und dein Glück passen wunderbar zusammen!“