Fifty-fifty
Helene schob die Brille hoch und betrachtete das Exemplar, das verdächtig nach einem Knollenblätterpilz aussah, von allen Seiten. Wenn sie jung waren, konnte man sie schnell mit einem Champignon verwechseln. Helene schnupperte an dem Pilz. Er roch gar nicht schlecht, leicht nach Honig. Vorsichtshalber legte sie ihn trotzdem zur Seite. Man konnte ja nie wissen.
Luzie hatte ihr heute Morgen das Körbchen voll Champignons gebracht. Sie wusste, dass Helene keine Pilze aß, aber sie hatte extra für Hubert gesammelt. „Beste Grüße an das Faultier. Vielleicht wird er nach einem deftigen Mittagessen ja etwas munterer.“
Helene lächelte. Die liebe Luzie. Sie hatte sich in den letzten Monaten zu einer guten Freundin gemausert und da sie gleich nebenan wohnte, konnte Helene ihr schnell mal das Herz ausschütten, wenn sie es mit Hubert gar nicht mehr aushielt. Luzie hörte einfach zu und sparte sich dumme Ratschläge. Das war heutzutage Gold wert, wo jedermann dachte, er hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Hubert war immer noch nicht wach. Helene presste ärgerlich die Lippen zusammen, während ihr Messer kleine Unreinheiten von den Pilzen schabte und den Stielansatz wegschnitt.
Seit Hubert im Ruhestand war, entwickelte er sich immer mehr zum Langschläfer und Morgenmuffel und entsprach damit so ganz und gar nicht den Vorstellungen seiner Ehefrau, die sich entgegen aller Warnzeichen einen energiegeladenen und unternehmungslustigen Rentner an ihrer Seite vorgestellt hatte. Bei genauer Betrachtung war es nur Helenes sonnigem Gemüt zu verdanken, dass ihr Zusammenleben noch irgendwie einer Ehe ähnelte. Hubert beteiligte sich überhaupt nicht an irgendwelchen Aktivitäten, ließ sich von ihr bedienen und verlor allem Anschein nach, Stück für Stück jeglichen Anstand.
Soeben erschien er, noch im Bademantel und unrasiert, in der Küchentür. Einer seiner Pantoffeln hatte vorne ein großes Loch, aber er weigerte sich standhaft, die neuen Hausschuhe, die Helene besorgt hatte, anzuziehen.
„Guten Morgen! Es ist elf Uhr durch.“ Helene bemühte sich, nicht vorwurfsvoll zu klingen, obwohl ihre Laune schon auf dem Weg in den Keller war.
Hubert brummte, als sei jedes Wort Verschwendung.
Er hielt die Nase in die Luft und schnupperte. „Was gibt´s denn?“
Offensichtlich war Hubert hungrig.
„Kartoffeln und Bratwurst. Für dich Champignons und für mich grüne Bohnen.“ Die Bohnen warteten bereits geputzt, geschnippelt und blanchiert auf ihren Einsatz.
„Von Luzie?“
„Ja. Und nun wasch dich und zieh dich an.“ Helene kam sich vor, als spräche sie mit einem Fünfjährigen. Dabei war Hubert früher Hauptbuchhalter gewesen, also keineswegs jemand, dem man die einfachsten Dinge erklären musste.
„Nö, hab keine Lust. Ich komm nachher nochmal.“
Helene hielt die Luft an. Wegen Hubert würde sie demnächst solche verkniffenen Falten links und rechts vom Mund bekommen, die sie immer gefürchtet hatte. Sie schnippelte weiter Pilze in die Schüssel, als wolle sie einen Rekord brechen und schluckte die Tränen herunter, die gerade aufsteigen wollten. Die Tür klappte, ohne dass Hubert ein weiteres Wort sagte oder ihr gar anbot, sich an der Zubereitung des Essens zu beteiligen. So ging das jeden Tag, seit einem Jahr.
Luzie hatte sie schon mehrfach liebevoll „dummes Schaf“ genannt und das war Helene wohl auch. Die längst fällige Aussprache mit Hubert verschob sie von Mal zu Mal, erduldete stattdessen zähneknirschend sein unerklärliches Benehmen. Wenn Luzie sie fragte, wie lange sie das noch ertragen wollte, zuckte Helene immer die Schultern und beteuerte, dass sie bald mit Hubert sprechen würde. Bald.
Sie konnte ja verstehen, dass er seine Arbeit vermisste. Vor allem die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die ihm dort viele Jahre entgegengebracht worden war. Nur zuletzt nicht, da drängten Jüngere in der Firmenhierarchie nach oben und benutzten die Ellenbogen, um ihre Ziele zu erreichen. Huberts Antrag auf Verlängerung des Arbeitsvertrages war abgelehnt worden und das setzte ihm sehr zu. Dennoch war das kein Grund, seinen Missmut an ihr auszulassen. Wut und Ärger gärten schon länger in Helene. Schließlich konnte sie nichts dafür, dass die Welt so beschaffen war. Die Alten wurden aussortiert, die Jungen wuchsen nach, um später selbst aussortiert zu werden. Warum Hubert sich keine neue sinnvolle Beschäftigung suchte, war ihr ein Rätsel.
Während Helenes Gedanken weiterschweiften, schälte sie die Kartoffeln, zerschnitt sie und füllte Wasser in den Topf. Die Bohnen kamen zusammen mit ein paar Schinkenwürfeln in eine Kasserolle und in den Herd, die Champignons in die eine Pfanne, die Bratwürstchen in die andere.
Zufrieden öffnete Helene das Fenster, um frische Luft einzulassen. Dann räumte sie die Abfälle von der Arbeitsplatte, säuberte das Messer, das sie benutzt hatte und wischte die Platte gründlich ab. Mit einer kleinen Gießkanne gab sie neues Wasser auf die Kräutertöpfe, die ordentlich aufgereiht auf der Fensterbank standen.
Während das Essen vor sich hin garte, schnappte Helene sich ein Kreuzworträtsel. Dabei konnte sie ihren Ärger am besten vergessen.
„Hubert, das Essen ist fertig!“
Tatsächlich kam Hubert gleich darauf um die Ecke. Zumindest hatte er sich eine Trainingshose und ein Shirt angezogen und sah, bis auf den löchrigen Pantoffel, etwas manierlicher aus. Heute Abend musste sie unbedingt mit ihm reden. Es war einfach nicht mehr auszuhalten mit ihm. Kein Wort sagte er, kein Dankeschön, nichts, als sei Helene gar nicht anwesend. So ging das nicht weiter. Helene merkte schon wieder, wie sich die scharfen Falten tiefer in ihr Gesicht eingruben.
Es schien Hubert gut geschmeckt zu haben. Er leckte die Gabel, dann das Messer und zum Schluss seinen Teller ab. Zuletzt rülpste er vernehmlich und als ob das nicht bereits das Fass zum Überlaufen gebracht hätte, furzte er auch noch hörbar und grinste zufrieden dazu. Helene starrte ihn an, unfähig, ein Wort zu sagen. Es fühlte sich an, als sei ein Panzer über sie hinweggefahren. Huberts neue Tischetikette zerstörte gerade den letzten Keim ihrer Zuneigung für ihn. Als Hubert sich erhob und nuschelte: „Ich geh jetzt wieder ins Bett.“, konnte Helene nicht einmal einen Finger bewegen. Sie saß wie versteinert am Tisch, das Besteck in den Händen und noch einen Rest der Mahlzeit auf dem Teller. Ihre Tränen bahnten sich den Weg über Wangen und Kinn und tropften leise auf ihre Brust.
Nach einer Weile erst war sie wieder in der Lage, sich zu erheben. Sie räumte Huberts Geschirr und Besteck in die Spülmaschine und öffnete den Mülleimer, um die Reste ihres eigenen Essens zu entsorgen. Ihr war der Appetit gründlich vergangen. Gerade kullerte der übriggebliebene Bratwurstzipfel in den Behälter, da durchfuhr es Helene siedendheiß. Als sie vorhin den Abfall von den Pilzen in den Eimer getan hatte, war da kein Knollenblätterpilz mit dabei. Sie hatte ihn zur Seite gelegt und …
Helene riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Herrgott! Das konnte doch nicht sein!
Sie stülpte den Eimer um und fuhr mit den Fingern durch die Abfälle. Kartoffelschalen, Pilzreste, die Enden der grünen Bohnen, der Bratwurstzipfel. Kein Knollenblätterpilz.
Ihr lief ein Schauer den Rücken herunter. In ihrem Ärger über Hubert hatte sie wohl den Pilz gegriffen und mit verarbeitet. Sicherheitshalber sah sie noch auf dem Fußboden und unter dem Tisch nach.
Helenes Beine wurden in Lichtgeschwindigkeit weich, wie Gummi. Sie starrte auf die Überbleibsel. Ein Irrtum war nicht möglich. Der Giftpilz war nicht dabei.
Mit der linken Hand ertastete Helene einen Stuhl, zog ihn heran und sank darauf nieder. Sie hatte Hubert umgebracht!
Dann fiel ihr ein, dass Hubert ja vielleicht noch lebte. Sie könnte den Rettungsdienst rufen. Müsste ihn rufen.
Müsste sie?
Ein paar Minuten lang erlag Helene der Versuchung und stellte sich vor, wie ein Leben ohne Hubert sein könnte. Die Zeit dehnte sich, während Helene durch die Welt reiste, nette Leute kennenlernte, im Restaurant von gut aussehenden jungen Kellnern bedient wurde und sich ihren langgehegten Wunsch erfüllte, einen Tandemsprung mit dem Fallschirm. Sie könnte mit Luzie reisen. Die verstand sie wenigstens . Oft genug hatte sie ihr gesagt: „Dummes Schäfchen, du. Hubert ist nicht depressiv, der ist einfach nur frech und faul. Gar nicht verdient hat er dich!“ Es tat unheimlich gut, wenn jemand Verständnis zeigte und ihre Rolle als Ehefrau und Mensch wertschätzte.
Helene schrak hoch. Nein, mit so einer Schuld wollte sie nicht leben. Das wäre ja Mord!
Ihre Energie kehrte zurück. Zuerst der Rettungsdienst! 110 oder 112? 112.
Helene erklärte, was passiert war. Erstaunlicherweise verhaspelte sie sich nicht, obwohl die Schuldgefühle sie übermannten und der eiserne Ring um ihre Brust immer enger zu werden drohte.
Der junge Mann am Telefon beruhigte sie: „Ein Rettungswagen ist unterwegs. Sorgen Sie dafür, dass der Notarzt Sie schnell findet und übergeben Sie ihm die Reste der Mahlzeit oder Erbrochenes. Und sorgen Sie dafür, dass Ihr Mann nicht noch weiter erbricht, wenn es möglich ist.“
Helene hielt den Hörer noch einen Moment in der Hand. Dann fegte sie um die Ecke. Sie hatte nicht einen Gedanken darauf verschwendet, erst einmal nach Hubert zu sehen. Vielleicht schlief der ganz friedlich und alles war ein großer Irrtum?
Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Hubert lag verschwitzt im Bett und hatte die Augen geschlossen. Er sah sehr blass aus. Vor dem Bett lag Erbrochenes. In Helenes Bauch krampfte es.
Mit einem großen Schritt stieg sie über die Lache und setzte sich auf Huberts Bettkante. Sanft rüttelte sie ihren Mann.
Hubert fuhr hoch, als hätte sie ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet und starrte sie an. Aus seinem Mund kamen merkwürdige Laute. Helene strich ihm die verschwitzten Locken aus der Stirn. „Es tut mir leid, Hubert. Der Notarzt ist unterwegs.“
„Gu Heche, gu!“ Huberts Blick war hasserfüllt.
Helene starrte ihn an und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie sich scheiden lassen würde.
Abends rief Helene im Krankenhaus an. Am Nachmittag hatte man ihr gesagt, dass sie Hubert an diesem Tag keinen Besuch mehr abstatten solle. Aber natürlich wollte Helene wissen, wie es ihm inzwischen ging. Das schlechte Gewissen plagte sie.
Die Krankenschwester sagte ihr: „Er ist stabil, muss aber noch ein paar Tage bleiben. Er benötigt Infusionen und wir müssen ihn überwachen.“
„Ist er denn ansprechbar?“
„Aber ja. Der Beamte von der Kripo ist gerade aus seinem Zimmer raus.“
„Kripo?“
„Ja, Ihr Mann hat Anzeige erstattet. Wussten Sie das nicht?“
Die unschuldige Frage fegte Helene die Beine unterm Körper weg. Kripo? Anzeige? Ihr wurde schlecht.
Als sie sich wieder sammeln konnte, keimte Wut in ihr auf. Hubert hatte Anzeige erstattet? Das gab es doch nicht. Wenn er die Polizei anrufen konnte, dann konnte er ja auch mit ihr sprechen, oder? So, wie sich das gehörte.
Er musste doch wissen, dass es ein Versehen war. Anzeige? Wollte er sie ins Gefängnis bringen?
Helenes Wangen röteten sich. Sie rappelte sich hoch. Mit letzter Kraft tippte sie Luzies Nummer ins Telefon und hielt den Hörer mit bebender Hand ans Ohr. „Mooslhammer hier.“ Und dann brachen alle Dämme.
Luzie wartete geduldig ab, bis Helenes Schluchzer in selteneren Abständen kamen. „Naja, die Chance stand ja fifty-fifty.“
„Was?“
Luzie kicherte. „Entschuldige, es war ein Scherz. Tut mir leid! Ich komme jetzt rüber und wir reden, in Ordnung?“
Zehn Monate später stand Helene an der Reling eines Luxusliners, die Haut rosig vom kalten Wind. Ihr Haar hatte sich gelockert und wurde durcheinander gewirbelt. „Du siehst schön aus, Helene.“ Eine Hand legte sich auf ihre, streichelte zärtlich den Handrücken. Es war gar nicht unangenehm, ganz im Gegenteil.
Helene verzog die Lippen. Die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln vertieften sich. Sie hatte sich mit der Vergangenheit ausgesöhnt. Die Kripo hatte den Fall zu den Akten gelegt und nachdem Luzie auch noch die Schuld für das Versehen auf sich genommen hatte, war es ihr leichter ums Herz. So etwas passierte.
Hubert hatte es überlebt. Er würde zwar gesundheitliche Schäden zurückbehalten, aber das war zu meistern.
Helenes Augen glänzten, als sie den Kopf drehte und alle Wärme ihres Herzens auf die Reise zu der Person neben ihr schickte.
„Danke, du siehst aber auch schön aus.“
Eine Böe wehte Luzies Sommerhut davon und die beiden Frauen sahen leise lächelnd hinterher. Sie hielten sich an den Händen und dachten darüber nach, wie groß die Chance war, dass ein kleiner Pilz ihr Leben derart veränderte. Fifty-Fifty.