Die Teeflasche
Unsere Klasse bestand aus siebenundzwanzig Mädchen und zwei Jungen – eine Konstellation, die zumindest für die beiden männlichen Vertreter eine Herausforderung gewesen sein dürfte. Ich kann das nicht so beurteilen, weil ich eine von den siebenundzwanzig jungen Damen war und entsprechend in der Masse unterging, aber die Annahme, dass es nicht so einfach war, sich gegen eine solche Übermacht zu behaupten, liegt nahe und wird von den nachfolgend geschilderten Ereignissen ganz gut illustriert.
Man kann sich vorstellen, dass die beiden jungen Männer täglich genauer beäugt wurden. Schließlich waren wir alle zwischen sechzehn und siebzehn und damit in der Phase, in der wir uns selbst profilieren und gleichzeitig Genaueres über die Reaktionen und Befindlichkeiten des anderen Geschlechts in Erfahrung bringen wollten.
Wer jetzt erwartet, dass Frank und Frank romantisches Interesse weckten, den muss ich leider enttäuschen. Der eine Frank war recht klein und zierlich, zudem mit einer Behinderung versehen, die ihn wenig attraktiv machte. Aber er war ein pfiffiger, anpassungsfähiger Kerl, der wusste, wie man sich beliebt machte.
Der andere Frank war zwar körperlich nicht versehrt, aber vom Wesen her sehr ungelenk und daher nicht in der Lage, uns lange standzuhalten. Von ihm handelt diese Geschichte.
Frank war ein Muttersöhnchen, das bekamen wir recht schnell mit. Seine Kleidung war gepflegt, aber alt und unmodern. Er konnte sich nicht gut ausdrücken und wenn er etwas sagte, spürte man, dass er den Apfel der Erkenntnis im mütterlichen Garten gepflückt hatte. Nun hätte unser Interesse schnell erlahmen können, wenn da nicht die Teeflasche gewesen wäre, die er täglich, mit schwarzem Tee gefüllt, mit in die Schule brachte. So ein Ding aus dickwandigem, milchigen Plaste, das genauso unmodern wie der ganze Frank war. Aus heutiger Sicht waren Frank und seine wiederverwendbare Teeflasche Vorreiter der Nachhaltigkeit und dagegen war damals wie heute überhaupt nichts einzuwenden. Wir benutzten solche oder ähnliche Flaschen ja ebenfalls. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass man unseren Flaschen den Füllgrad ansehen konnte, während Franks Flasche inzwischen im Inneren so einen dunkelbraunen Belag aufwies, dass jedes Bemühen, etwas vom Inhalt zu erkennen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt war.
Etwa die Hälfte der Klasse machte Frank Vorhaltungen, dass er aus so einer schmutzigen Flasche trank und versuchte ihn zu überzeugen, das Ding doch mal zu reinigen.
Teetrinker wissen, dass schwarzer Tee nach einiger Zeit einen dunkelbraunen Film in Tassen und Kannen ablagert. Kenner meinen, das gäbe dem Tee ein besonderes Aroma. Dieser These wollten wir ja nicht widersprechen, jedoch konnten wir uns beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Teefilm in Franks Plasteflasche irgendetwas zur Verbesserung des Aromas beitragen könnte. Es sah einfach nur eklig aus.
Man stelle sich einen jungen Mann vor, der weder durch sein Wesen noch durch etwaige geistige Ergüsse die Beachtung junger Damen auf sich lenken konnte. Jedoch mit der verschmutzten Teeflasche gelang ihm dieses Kunststück.
Was Frank sich von derartiger Aufmerksamkeit versprach, weiß ich nicht. Möglicherweise war die Flasche auch nur sein einziges Bollwerk gegen die Angriffe aus unseren Reihen. So lange er sich unseren Forderungen nicht beugte, suchten wir keine andere Angriffsfläche, sondern versuchten, ihn und das Ekelding in die Knie zu zwingen. Frank brauchte kein Schwert, er brauchte seine schmutzige Teeflasche im Kampf gegen die weibliche Übermacht.
Unsere Bemühungen dauerten nun bereits einige Wochen, als eine Klassenkameradin anmerkte, dass es wohl vergebliche Liebesmüh und Frank nicht zu bekehren sei.
Wir mussten zu drastischeren Maßnahmen greifen, um die Ehre der weiblichen Hygienepolizei zu retten.
Ihm die Flasche einfach zu entwenden und sie zu entsorgen, kam nicht in Frage. Es wollte sich auch niemand opfern, das Plasteding selbst zu reinigen. Frank und seine Teeflasche sollten bezwungen werden, damit Frank lernte, dass er sich unseren Maßstäben zu beugen hatte.
Eine grandiose Idee war natürlich nicht gleich zur Stelle. Zu unserer Ehrenrettung muss ich sagen, dass wir wirklich lange hin und her überlegten. Wir waren nicht bösartig, wir hatten es lediglich satt, jeden Tag zuzuschauen, wie der Ritter der braunen Teeflasche den Stein des Anstoßes aus der Tasche holte, auf seinem Pult deponierte und daraus trank. Ihm einfach eine neue Flasche besorgen konnten wir nicht, da es schlichtweg keine zu kaufen gab – die Mangelwirtschaft in der DDR ließ grüßen. Es musste eine andere Lösung gefunden werden.
Eines Tages merkte jemand an, dass Franks Teeflasche so schmutzig sei, dass er nicht mal mitkriegen würde, wenn da irgendetwas drin herumschwimmen würde. Der Gedanke war geboren.
Nur was könnte man in der braunen Brühe versenken?
Eine Klassenkameradin kam schließlich auf den Einfall, dass Fische ja schwimmen würden. Zufälligerweise besaß mein Vater ein Aquarium, in dem die Guppys gerade Junge bekommen hatten. Voilá!
Aus heutiger Sicht war unser folgendes Tun nicht gerade tierfreundlich, aber man muss verstehen, dass wir verzweifelt waren und die Idee mit den Guppys weit und breit das einzige legale Mittel schien, um Frank und die Teeflasche zur Räson zu bringen. Schließlich wollten wir ihn nicht vergiften oder etwas in die Flasche tun, das ihm schaden könnte. Wie es den Guppys in dem Tee ergehen würde, daran verschwendeten wir leider keinen Gedanken.
Gesagt getan. Ich fischte einige von den Minifischen aus dem Aquarium und brachte sie am nächsten Tag mit in die Schule. Dort übergab ich sie einer Mitschülerin, die Franks Banknachbarin war. Da meine Freundin und ich direkt in der Reihe vor Frank saßen, kam uns die Aufgabe zu, ihn abzulenken, während unsere Klassenkameradin die Guppys in die Flasche umfüllte. Das Ablenkungsmanöver gelang, die Fischlein landeten ohne Verzug im Tee und die Flasche wurde wieder in Franks Tasche verstaut. Die siebenundzwanzig Aasgeier gingen in Stellung, um den Vorgang und die Läuterung des Widerspenstigen genauestens zu beobachten.
Frank angelte zum Unterrichtsbeginn seine Teeflasche aus der Tasche und stellte sie wie gewohnt auf seinem Pult ab. Wir konnten nicht erkennen, ob sich in der Flasche irgendetwas bewegte, sie war einfach zu schmutzig. Andererseits waren wir ganz froh, dass keine Bewegung zu erkennen war. Das hätte den Plan vielleicht gefährdet und unser Anliegen in ein falsches Licht getaucht.
Dummerweise saß ich ja nun gerade vor Frank und musste in Richtung Tafel schauen, so dass ich nicht mitbekam, als er zur Flasche griff. Das Raunen aus den hinteren Reihen konnte ich jedoch nicht überhören und drehte mich gerade im rechten Augenblick um. Frank hatte die Teeflasche an den Mund gesetzt und trank mit großen Schlucken. Er verzog keine Miene, während einige von uns mit leichter Übelkeit zu kämpfen hatten. Andere wiederum sahen Frank mit aufgerissenen Augen und angewidertem Gesichtsausdruck an. In unserer Vorstellung verschwanden die kleinen Guppys in Franks Schlund, wie Sardinen im Maul eines Haifisches. Das musste der doch merken!
Nichts passierte. Es war nicht zu fassen.
Der Lehrer konnte sich das rege Interesse an Frank und seiner Teeflasche nicht erklären und versuchte, uns wieder auf den rechten Pfad zu bringen. Nun fiel auch Frank auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn siebenundzwanzig Mädchen dich anschauen, sollte dir das zu denken geben. Schließlich war er nicht schöner geworden über Nacht.
Frank mochte sich zwar über die ungewohnte Aufmerksamkeit wundern, konnte aber den Grund dafür nicht erkennen. Der befand sich ja in der verschmutzten Flasche.
Wir klärten ihn in der nächsten Pause auf.
Inzwischen hatten wir uns erholt und konnten das Episödchen herzlich belachen und gemeinsam auswerten. Die beiden Franks lachten mit. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob Frank mit der Teeflasche wirklich ehrlich war oder nur so tat, als ob er unsere Aktion lustig fand. Insgeheim muss er sich doch geekelt haben. Am nächsten Tag jedenfalls stellte Frank eine blitzblank geschrubbte Teeflasche auf den Tisch. Die Hygienepolizei hatte gewonnen – aber auch Franks Ansehen war etwas gestiegen. Er hatte sich tapfer geschlagen!