Die Ankunft Teil 2
Sein Bedürfnis, vor dieser dunklen Gestalt, die in der Öffnung aufragte, zurückzuweichen, war so natürlich wie sein morgendlicher Drang auf dem Gang zur Kloake. Beides war nicht zu unterdrücken. Orwig konnte ein innerliches Zusammenzucken nicht verhindern.
Die Frau trug ein langes, schwarzes Gewand, ohne jegliche Verzierung. Ihr Brustkorb war flach, der Bauch dafür deutlich vorgewölbt. Aber das war es gar nicht, was Orwig verschreckte. Ihr Kopf war bis auf ein paar Büschel gelblich- strohigen Haars kahl und tatsächlich völlig faltenlos, wie Marie gesagt hatte. Er saß auf einem äußerst dünnen Hals, der anmutete, als könne er das Gewicht nicht länger tragen. So ein hässliches Wesen hatte Orwig noch nie gesehen.
Ihre Stimme hingegen war angenehm, wie ein Streicheln. „Kommt herein, Herr Frerikson.“
Und das war das letzte freundliche Wort, das Orwig in seinem Leben hören sollte.
Heiners angebliche Schwester nickte ihrer vermeintlichen Tochter zu. Die glitt, nein schwebte nahezu über den Boden und zog den widerstandsunfähigen Dorfvorsteher in den Raum, der dem grünen Heiner bisher als Küche gedient hatte. Der Träger dieses hübschen Namens hatte jedoch mit dem ehemals kräftigen Bauern nichts mehr gemein, obwohl es erst zwei Tage her war, dass er den Besuch seiner Schwester und seiner Nichte im Dorf angemeldet und dabei sein dröhnendes Lachen hatte erschallen lassen.
Idelinde drückte Orwig neben das menschliche Wrack auf einen Stuhl und sah Gerafunde an. „Ich weiß nicht, ob wir ihn opfern müssen. Was denkst du?“
Sie hatten sich in der Zeit, die sie hier verweilten, an den Gebrauch der menschlichen Sprache gewöhnt. Bald würden sie wieder ihre eigene Sprache benutzen. Bald. Die Ankunft stand kurz bevor und ebendies war der Grund für Idelindes Frage.
Gerafunde zuckte mit den Schultern. „Die Vorsehung hat ihn uns geschickt. Wir benötigen Kraft. Die Schweine da draußen wären nur ein schlechter Ersatz. Und der hier“, sie stupste Heiner an, „der taugt nicht mehr viel.“
An Idelindes Blick sah sie, dass diese ebenso gedacht hatte. Aber als Ältere hatte sie natürlich das Recht, die Entscheidungen zu treffen.
Da nun keine Vorsicht mehr walten musste, entledigte Gerafunde sich des schwarzen Kleides. Sie ließ es achtlos zu Boden gleiten. Die elfenbeinfarbene Haut, die dabei zum Vorschein kam, war ebenso makellos, wie ihre Gesichtshaut.
„Lass uns ein letztes Mal an Heiner trinken und dann schaffen wir ihn nach draußen. Er beginnt zu stinken.“
Sie neigte sich über Heiners Nacken, suchte eine unversehrte Stelle und winkte Idelinde, es ihr gleichzutun. Gemeinsam zwangen sie ihre Zähne in Heiners Fleisch. Während Idelindes Haut sich leicht rötete, begann Gerafundes Körper zu irisieren. Ihre schmalen Schenkel wurden etwas praller. Aus ihrem Rektum stahlen sich in langsamen Windungen Tentakel, spielten miteinander und verflochten sich zu einem Zopf, der dort entlang wanderte, wo sich beim Menschen das Rückgrat befindet. Der Vorgang wirkte durchaus nicht abstoßend, sondern natürlich und schön.
Der grüne Heiner sank unter ihren Bemühungen immer mehr zusammen, bis nur noch eine ledrige Hülle übrigblieb. Idelinde griff diese Hülle mit beiden Händen. Ihre langgliedrigen Finger ließen solche Kraft nicht vermuten, aber sie schleifte den Rest des menschlichen Wesens ohne erkennbare Anstrengung hinaus zu den bereits verendeten Kühen. Wieder im Haus schloss sie sorgfältig die Eingangstür ab.
Gerafunde bedeutete Idelinde, dass sie nun ruhen müssten und so legten sie sich beide in Heiners Bettkuhle.
Orwig saß dort, wohin Idelinde ihn verfrachtet hatte. Er atmete sichtbar und schnell. Auf seiner Stirn und dem Schädel standen Schweißperlen, die in dichten Rinnsalen gen Boden liefen und Platz für neue Kameraden machten. Irgendetwas hinderte ihn daran, sich zu bewegen. Natürlich hatte er deutlich gesehen, welches Schicksal den grünen Heiner ereilt hatte. Auch die Frage, wer des Weiteren als Kraftspender dienen würde, wenn denn die Schweine nur eine Notration waren, stellte sich ihm nicht eine Sekunde. Sein Denken war stark verlangsamt, aber vorhanden. Er versuchte, zu blinzeln oder einzelne Finger zu bewegen. Beides misslang.
Was waren das für seltsame Wesen? Wieso hatten sie dem Heiner das angetan? Und wie könnte es ihm gelingen, diesem grauenhaften Schicksal zu entkommen?
Noch einmal mobilisierte Orwig alle Kräfte. Er war kein junger Mann mehr und seine Muskeln waren, seit er nicht mehr auf dem Feld arbeitete, sondern für den Grafen die Geschicke des Dorfes verwaltete, schwächer geworden. Aber was der Körper nicht leisten wollte, leistete ein in Panik geratener Geist zweifellos genauso gut. Langsam, ganz langsam krümmte sich sein Zeigefinger. Zumindest fühlte es sich so an. Orwig war nicht in der Lage nachsehen zu können, da er seinen Kopf nicht bewegen konnte. Es war trotzdem himmlisch, wenigstens die Hoffnung zu empfinden, seine Bewegungsfähigkeit zurückzubekommen.
Er überlegte. In der Früh war er losgegangen. Es konnte inzwischen nur der halbe Vormittag vergangen sein oder aber sein Zeitempfinden war durch das, was mit ihm geschehen war, gestört. Die fast zugezogenen Fensterläden ließen nur wenig Licht ein. Es war jedoch erkennbar noch hell draußen.
Orwig bewegte nun auch den Mittelfinger.
Er stellte sich vor, wie sich seine ganze Hand bewegte, reckte und bog die beiden Finger und spürte, wie die Bewegungen geschmeidiger wurden und auch die übrigen Finger darüber nachdachten, dem Spiel der beiden anderen zu folgen. Er lauschte angestrengt, ob von den beiden Wesen etwas zu hören war. Vielleicht konnte er ihnen unbemerkt entkommen, denn er war recht sicher, dass eine körperliche Auseinandersetzung nicht zu seinen Gunsten ausgehen würde.
Kein Geräusch war zu hören.
Ein Auge zwinkerte und hätte Orwig gekonnt, hätte er vor Freude aufgeschluchzt. Aber er konnte nicht. So hatte er eher das Gefühl, er müsse früher oder später platzen vor Anstrengung. Ein besonders dicker Schweißtropfen rann seinen Nasenrücken entlang, baumelte an der Nasenspitze und tropfte dann in seinen Schoß. Orwig hätte gern die Zunge darunter gehalten, aber die lag in seinem Mund wie eine tote Maus.
Wieviel Zeit verging, konnte Orwig nicht einschätzen. Seine Schultern und der Hals waren noch gelähmt, die Knie konnte er bereits spüren, jedoch nicht strecken und sein Hintern fühlte sich an, als sei ein Schwarm Bienen dort eingesperrt. Was hatte dieses Wesen nur mit ihm angestellt? Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihn etwas gestochen hätte, wenn er davon ausging, dass es ihm ein lähmendes Gift verabreicht haben könnte. Er wusste, es gab Kräuter, die eine solche Wirkung hatten. Dennoch … Diese Abgesandten der Hölle mussten über andere geheime Kräfte verfügen, die sie einsetzten, um sich von Menschen nähren zu können.
In ebendiese Überlegungen hinein, die wie ein dreirädriger Eselskarren durch sein Hirn rumpelten, spürte Orwig erneut Schwäche. Eins der Wesen hatte seine langen Finger unverhofft um seinen Hals gelegt und neigte soeben sein faltenloses Gesicht über ihn. Eins der drahtigen Haarbüschel, welches noch auf dem Kopf wucherte, kitzelte an Orwigs Ohr.
Gnädigerweise fiel der gute Orwig Frerikson in Ohnmacht und versäumte daher, aktiv seinem eigenen Tod beizuwohnen.
Als die Hülle des Vorstehers ebenso nach draußen transportiert worden war, wie die des grünen Heiners, sahen Idelinde und Gerafunde sich an. Ihre Körper sahen prall und gesund aus. Sie hatten so viel Wegzehrung aufgenommen, wie ihnen möglich war. Natürlich war es bedauerlich, dass einige der hiesigen Bewohner ihrem Hunger zum Opfer gefallen waren. Dennoch, es war unvermeidlich. Nur noch wenige Minuten sollten bis zur Ankunft der Raumfähre vergehen, die sie wieder auf ihren Heimatplaneten im Quadranten Xileneios brachte. Sie fieberten dem Moment entgegen, in dem sie diesen Planeten verlassen durften.
Die beiden Wesen gingen auf die Wiese, vereinigten die aus ihrem Rektum gewachsenen Zöpfe zu einem einzigen größeren Zopf, dessen Spitze unverzüglich zu glühen anfing. Erst zart und leise. Dann richtete sich die Spitze nach oben und erzeugte einen hellen Strahl, der seine Antwort in zahlreichen anderen Strahlen fand, die die Nacht durchkreuzten. Etwa einhundert Reisende warteten darauf, sich wieder mit ihrem Volk zu vereinigen.
Im Scheitelpunkt aller Strahlen wurde nun die Raumfähre sichtbar. Es sah so aus, als sauge sie alle Strahlen ein, so dass nur noch eine Ahnung in der Nacht schwebte. Idelinde und Gerafunde, deren richtige Namen XCvFT9643 und GtRRSDW3524 lauteten, hießen den Sog willkommen. Sie hatten sich umarmt und sahen wie ein etwas zu lang geratenes Liebespaar aus. Nichts hielt sie hier. Dieser unterentwickelte Planet war nur eine Zwischenstation für sie, völlig nutzlos. Mochten seine Bewohner das Bisschen ausbeuten, das ihnen ihr Gott in Boden, Wasser und Luft geschenkt hatte. Lang würde es ohnehin nicht dauern, bis die letzten Ressourcen des Planeten erschöpft waren. Nach Zeitrechnung der Besucher aus dem Quadranten Xileneios konnte das nur noch ein paar hundert Jahre dauern, ein kosmischer Wimpernschlag.
Als die Raumfähre alle Passagiere geladen hatte, schickte sie Feuer in alle Stätten, in denen die Angehörigen ihres Volkes Unterschlupf gefunden hatten. Männer, Frauen und Kinder, so sie dem Hunger der Besucher nicht zum Opfer gefallen waren, verbrannten sofort. Das Vieh verdampfte, die Hütten zerfielen zu Staub, Äcker und Wälder loderten in einem einzigen Inferno auf.
Sie würden sich als erste erholen und neues Leben hervorbringen. Und vielleicht würde es eine Legende geben. Die Legende vom verbrannten Kinkelstein.