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Die Anderen


Ich sitze mitten in der Stadt und sehe mir die Leute an, die an mir vorbei laufen. Manche geschäftig, andere wieder geruhsam, die nächsten gedankenverloren oder einfach nur in Eile, den schönen Frühlingstag gar nicht wahrnehmend.

An meinem Platz scheint mir die Sonne auf die Nase. Ein laues Lüftchen streichelt mein Gesicht und sagt mir, was für ein toller Tag das sein könnte.

Beim Anblick der vielen Leute denke ich darüber nach, wie es wäre, in einer anderen Haut zu stecken.

Vielleicht ist das dort eine geeignete Kandidatin? Ihr Gesicht ist fröhlich. Sie telefoniert und ich sehe ihr an, dass sie glücklich ist. Wenn ich in ihre Haut schlüpfen würde, erwartet mich dann die Liebe, nach der ich mich so sehne?

Oder da, die beiden Asiatinnen. Ihre Augen strahlen. Sie kichern und schnattern  in ihrem Singsang, lachen und sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich nicht sehen, obwohl sie mich fast streifen.

Ich schaue ihnen hinterher und versuche, mich über ihre Zweisamkeit zu freuen. Es gelingt mir nur ein kleines bisschen. Zu sehr bin ich mit meiner eigenen Haut verwachsen.


Vielleicht sollte ich eine ganz andere Haut ausprobieren. Was mag zum Beispiel der Mann dort fühlen? Seine Haut hat eine schöne Farbe, aber unter den vielen blasshäutigen Menschen hier, muss er sich manchmal wie ein Paradiesvogel vorkommen. Ob er überhaupt daran denkt, dass er anders aussieht, als die anderen?

Wahrscheinlich wird es ihm nur bewusst, wenn ihn neugierige Blicke treffen.

Sein Gang ist elastisch. Er scheint sportlich zu sein und überholt gerade eine alte Frau mit knittrigem Gesicht und einem Krückstock. Naja, Geh-Hilfe. Mit der möchte ich nicht tauschen, das steht sofort fest.

Der Mann ist im Gewühl verschwunden und die alte Frau ist stehen geblieben, holt tief Luft, wie es scheint. Wenn ich in ihr Leben schlüpfte, was würde mich dort erwarten? Erinnerungen an schöne Zeiten mit der Familie oder Einsamkeit oder…

Sie sieht nicht besonders glücklich aus. Wahrscheinlich ähneln sich unsere Gesichter deshalb ein bisschen. Nur, dass meins nicht so knittrig ist.

Eine Familie mit zwei Kindern geht an mir vorüber. Das kleinere Mädchen hält einen Teddy im Arm und trippelt mit zierlichen Schritten, um jeweils nur jeden zweiten Pflasterstein betreten zu müssen. Das andere Mädchen hüpft neben der Mutter her und plappert wild drauf los.

Sie bemerken mich gar nicht, so vertieft sind sie in ihr Tun. Wenn ich doch nur wieder ein kleines Mädchen sein könnte!

Dann wäre alles gut.

Der Passantenstrom reißt nicht ab. Es gibt so viele Menschen zu betrachten. Und alle führen ihr eigenes Leben. Sind sie glücklich oder unglücklich, wer mag das sagen? Mit den interessanten Menschen lasse ich meine Gedanken spazieren, bis sie nicht mehr zu sehen sind.

Ein Hauch Parfüm holt mich wieder in die Gegenwart zurück. Auf die Bank nebenan setzt sich eine gut aussehende Frau. Ihre elegante Kleidung fällt mir sofort auf. Ganz entspannt sitzt sie da, hat sich eine Zigarette angezündet und ihre wohlgeformten Beine ausgestreckt. Mann, da könnte ich wirklich neidisch werden!

Jung ist die Frau nicht mehr, vielleicht so Anfang Fünfzig. Aber sie strahlt eine solche Zufriedenheit aus, dass ich augenblicklich die zwischen uns liegenden Jahre verschenken und in ihre Haut schlüpfen möchte.

Aber das geht nicht, denn ich sitze hier. In meinem Rollstuhl.

An diesem Abend treffe ich die Entscheidung.

Wenn ich den Ärzten glauben kann, besteht eine winzig kleine Chance, wieder laufen zu können. Ich muss nur kämpfen, nur wollen. So sein, wie die Frau auf der Bank oder der dunkelhäutige Mann mit dem elastischen Gang.

Und ich beschließe, in meiner eigenen Haut zu bleiben und mir mein altes Leben zurück zu holen.