Leseproben/Kurzgeschichten
Alwine und der Schatz
Stella, Alwines große Schwester, hatte beim Würfeln gewonnen und durfte deshalb entscheiden, wie die Familie den letzten Urlaubstag verbringen sollte. Natürlich wählte Stella den Strand, was Alwine fast zum Heulen gebracht hatte. Sie wäre doch viel lieber mit dem Rad gefahren, statt nur am Meer herum zu sitzen. Aber nein, Stella wollte den ganzen Tag am Strand verbringen. Entsprechend schlecht gelaunt saß Alwine deshalb nun im Sand und ließ die feinen Körner durch die Finger rieseln, während Papa auf der Luftmatratze im Wasser herumdümpelte, Mama und der kleine Jakob Karten spielten und Stella in der Sonne briet.
Auf einmal piekste sie etwas am Oberarm und als Alwine missmutig nachsah, was das war, sah sie direkt in die Augen eines himmelblauen Vogels, der sie – ja man muss es so sagen – frech ansah. Und als ob das nicht genug wäre, fing der Vogel auch noch an zu sprechen. „Na, du? Schlecht gelaunt?“
Alwine zögerte zuerst ein bisschen. Ein sprechender Vogel war ihr noch nie begegnet. Aber naja, was sollte schon passieren? Und da ihre Laune sich eben etwas besserte, ignorierte sie die Frage des Vogels und sagte: „He, wer bist denn du?“
Der Vogel reckte sich stolz in die Höhe, spreizte ein wenig das Gefieder und antwortete artig: „Ich bin dein PGLV.“
Marvins Überraschung
Als Marvin die Entertaste drückte, klopfte sein Herz wie verrückt. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, obwohl in ihm eine kalte Gelassenheit die Aufregung verdrängte. Endlich. Endlich würde Margret erhalten, was sie verdiente.
Noch schnell sandte er die Bestellung für Susi ab. Dieses Mal ohne das besondere Häkchen, das ihn gerade zehntausend Euro gekostet hatte. Susi würde einen normalen Blumenstrauß erhalten. Rote Rosen für 24,99. Bei ihrem nächsten Treffen würde sie ihn geradezu ins Bett zerren vor lauter Dankbarkeit. Marvin lächelte.
Margret hingegen. Tja. Die kriegte ebenfalls eine Liebesgabe. Nur würde sie dann nicht mehr in der Lage sein, irgendjemanden auf ihre schmuddeligen Laken zu werfen. Außer dem Teufel vielleicht.
Aus Marvins Kehle quälte sich ein Kichern, während er sich die schütteren Haare zurück strich.
Die letzten Jahre waren die Hölle. Das Versteckspiel und die dauernden Anschuldigungen. Wäre Margret nicht so nachlässig mit ihrem Äußeren umgegangen und hätte sie ihn nicht so kurz gehalten, wer weiß? Dann hätte ihn das Angebot dieses speziellen Onlinedienstes vielleicht gar nicht gereizt. Hätte ihm keine schlaflosen Nächte bereitet, in denen er mit sich rang, die Laken nass schwitzte und das Hämmern seines Herzens ihm in den Ohren dröhnte. Dann hätte es möglicherweise auch Susi nicht gegeben. Nicht in seinem Leben.
Kalt erwischt
Susi kämpfte sich schwitzend durch den verschneiten Wald. Heute morgen noch hatte die Sonne einen wunderschönen Tag versprochen. Nun – ein paar Stunden später und einige Kilometer von ihrem Hotel entfernt – fragte Susi sich, wie um alles in der Welt, sie auf ein paar Sonnenstrahlen herein fallen konnte. Eigentlich sollte sie schon lange an der Bar sitzen, einen Glühwein schlürfen und den ganzen sportlichen Idioten dabei zusehen, wie sie sich die Knochen brachen. Stattdessen hatte sie auf Rudi gehört, diesen Schwachkopf!
Schnaufend stapfte Susi durch den tiefen Schnee, machte ein unglückliches Gesicht und ignorierte die weiße Pracht auf den Tannen. Gerade als sie wieder einen ihrer klobigen Stiefel anhob, sah Susi etwas auf dem Boden funkeln. Vielleicht würde das doch noch ihr Glückstag werden? Vorsichtig setzte sie ihren Fuß ab und bückte sich. Mit ihren Fäustlingen versuchte Susi das kleine glänzende Etwas zu greifen. Vergebens. Das Glitzerding versank im lockeren Pulverschnee.
„Hrrch!“ entfuhr es Susi.
Weihnachtsfeier
Hicks.
Ich glaube, ich bin gansch schön bedrunken. Mein Gopff!
`S dreht sich ein bisschen. Der Weihnachtsbaum wird immer schneller, nanu?
Vermutlich bin ich in Ohnmacht gefallen. Ein Typ, der dem Kerl aus dem Roman von dieser, wie hieß sie noch mal, Dingsda?, wie aus dem Gesicht geschnitten ist, guckt mich mit runden Augen an. Auf den zweiten Blick, sehe ich, dass es eine altmodische runde Brille ist. Aha. Ich wollte mich schon wundern.
Seine Lippen kräuseln sich und sagen etwas zu mir. Lauter unverständliches Zeug. Seinen Namen kriege ich aber mit.
„Harry?“
Der Typ nickt.
Vorsichtig setze ich mich auf, halte dabei mit einer Hand meinen Brummschädel fest und überlege dabei, ob ich mich gleich übergebe oder erst nachher.
Der Anstand gewinnt.
Die Ankunft Teil 2
Sein Bedürfnis, vor dieser dunklen Gestalt, die in der Öffnung aufragte, zurückzuweichen, war so natürlich wie sein morgendlicher Drang auf dem Gang zur Kloake. Beides war nicht zu unterdrücken. Orwig konnte ein innerliches Zusammenzucken nicht verhindern.
Die Frau trug ein langes, schwarzes Gewand, ohne jegliche Verzierung. Ihr Brustkorb war flach, der Bauch dafür deutlich vorgewölbt. Aber das war es gar nicht, was Orwig verschreckte. Ihr Kopf war bis auf ein paar Büschel gelblich- strohigen Haars kahl und tatsächlich völlig faltenlos, wie Marie gesagt hatte. Er saß auf einem äußerst dünnen Hals, der anmutete, als könne er das Gewicht nicht länger tragen. So ein hässliches Wesen hatte Orwig noch nie gesehen.
Ihre Stimme hingegen war angenehm, wie ein Streicheln. „Kommt herein, Herr Frerikson.“
Und das war das letzte freundliche Wort, das Orwig in seinem Leben hören sollte.
Heiners angebliche Schwester nickte ihrer vermeintlichen Tochter zu. Die glitt, nein schwebte nahezu über den Boden und zog den widerstandsunfähigen Dorfvorsteher in den Raum, der dem grünen Heiner bisher als Küche gedient hatte. Der Träger dieses hübschen Namens hatte jedoch mit dem ehemals kräftigen Bauern nichts mehr gemein, obwohl es erst zwei Tage her war, dass er den Besuch seiner Schwester und seiner Nichte im Dorf angemeldet und dabei sein dröhnendes Lachen hatte erschallen lassen.
Idelinde drückte Orwig neben das menschliche Wrack auf einen Stuhl und sah Gerafunde an. „Ich weiß nicht, ob wir ihn opfern müssen. Was denkst du?“
Die Ankunft – Teil 1
Orwig Frerikson tauchte die Feder ins Tintenfass, strich die überschüssige Tinte sorgfältig ab und erweiterte die Liste der Dorfbewohner um zwei Personen. Die Zungenspitze des Dorfvorstehers glitt angestrengt über seine Lippen, während er mühsam die Buchstaben aneinanderreihte.
Gerafunde und Idelinde. Sie waren beim grünen Heiner eingezogen. Der behauptete, es handele sich um seine verwitwete Schwester und deren Tochter. Nur dass Orwig sich nicht daran erinnern konnte, dass der grüne Heiner jemals eine Schwester besessen hätte. Zudem hatte seine Frau ihm berichtet, dass die beiden recht seltsam aussahen. „Stell dir vor… Sie haben keinerlei Falten im Gesicht oder an den Händen“, hatte sie geraunt. „Sie sehen so glatt aus, wie zwei Eier. Schwer zu sagen, welche davon die Mutter sein soll.“
Die Faltenlosigkeit der beiden Frauen machte Orwig jedoch die wenigsten Sorgen. Er krauste die Stirn und schlug die vorhergehenden Seiten des Bestandsbuches auf. Fein säuberlich waren dort Namen verzeichnet und aus den danebenstehenden Daten war ersichtlich, dass der Zustrom an neuen Bewohnern in letzter Zeit rasant zunahm. Wenn das so weiterging, würde aus dem Dorf bald eine kleine Stadt werden. Orwig hatte sich noch keine abschließende Meinung dazu gebildet, fand aber auch keine Erklärung für das Interesse der vielen Ankömmlinge an diesem Ort. Kinkelstein war ein Dorf, wie jedes andere. Etwa neunzig Gehöfte reihten sich aneinander, mal größer, mal kleiner, mal gepflegt, mal etwas vernachlässigt, so wie das in anderen Dörfern auch der Fall war.
Einmal im Monat war auf dem Gemeindeplatz Markttag, zu dem Händler aus dem Umland herbeiströmten und ihre Waren feilboten, während die Kinkelsteiner die Gelegenheit nutzten, ihrerseits Fleisch, Milch, Käse, Gemüse, Brot und Speck an den Mann zu bringen, eben das, was sie selbst herstellten. Vielleicht erhofften sich die neuen Zuzügler Absatz für eigene Waren? Eine Weberei fehlte vor Ort und auch ein Schneider, der einmal frischen Wind in die jahrhundertealte Kleidertradition brachte. Es wäre tatsächlich Bedarf an neuem Handwerk da.
Orwig beschloss, den Grafen aufzusuchen und ihm von dem ungewöhnlichen Zustrom zu berichten. Gleich morgen würde er sich auf den Weg machen und den Kinkelstein erklimmen, auf dem die Burg thronte. Ein wenig Angst hatte er vor der Reaktion des Grafen. Man wusste nie, wie er reagierte. Allerdings wollte Orwig auch nicht riskieren, seine Beobachtung für sich zu behalten. Vielleicht würde der Graf sich über die neuen Steuerzahler freuen und ihn angesichts der guten Nachricht belobigen? Die Aussicht auf ein paar zusätzliche Taler erzeugte ein angenehmes Gefühl in seiner Leibesmitte. Und auf dem Weg zur Burg würde er sich Heiners Schwester und deren Tochter ansehen, schon, um Marie beruhigen zu können.
Am nächsten Morgen verabschiedete Orwig sich in der Früh von seiner Frau.
Die Botschaft
Fräulein Sieglinde ließ ihn rufen. Gunnar konnte es immer noch nicht fassen. Seit zwei Jahren staunte er die schöne Sieglinde aus der Ferne an und heute durfte er sogar in ihre Kemenate, in die Nähe der Verehrungswürdigen.
Gunnar eilte die Treppen hinauf, nahm immer gleich zwei Stufen auf einmal und verharrte dann doch vor der Tür seiner Angebeteten. Während er verschnaufte, strich er sich das Haar noch einmal glatt und richtete sein Wams. Sein Herz klopfte, nicht nur weil der Treppenspurt ihm den Atem genommen hatte. Sieglinde, sangen seine Herzschläge ein ums andere Mal. Sieglinde.
Die Tochter des Jobst von Mähren galt als spröde. Aber vielleicht sagten das nur die zahllosen Verehrer, die das schöne Fräulein abgewiesen hatte. Gunnar war bereits seit ihrer ersten Begegnung in sie verliebt. Damals zählte er gerade fünfzehn Lenze, war erst einige Tage am Hof des Mähren und durfte dem Fräulein behilflich sein, als es die Kutsche verließ. Seitdem gab sein Herz keine Ruhe mehr und klopfte und tanzte, wenn es gelang, Sieglinde einmal zu sehen.