Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Frey

Rachel Joyce hat hier eine Geschichte vorgelegt, die ans Herz geht – nicht im romantischen Sinne, sondern im menschlichen.
Harold Frey ist ein unscheinbares Arbeitstier und lebt in einer Ehe, die im Prinzip keine mehr ist. Der Kitt dieser Ehe ist der gemeinsame Sohn, den beide Elternteile schmerzhaft vermissen und dessen permanente Abwesenheit seine Frau ihrem Mann Harold anlastet. Entsprechend kühl ist der Umgang miteinander. Das Dasein der beiden besteht nur noch aus Routine.
Eines Tages erhält Harold den Brief einer ehemaligen Kollegin, die er zwanzig Jahre lang nicht gesehen hat und die nun unheilbar an Krebs erkrankt ist. Harold weiß nicht, was er tun soll und formuliert unbeholfen eine Antwort, die aus wenigen Sätzen besteht. Während er zum Briefkasten läuft, um seine Antwort abzusenden, fallen ihm ein paar Situationen ein, in denen Queenie nett zu ihm war und er hat das Gefühl, er könne den Brief nicht in den erstbesten Briefkasten werfen. Also läuft er weiter bis zum nächsten und bis zum nächsten und bis zum nächsten…
Der Gang zum Briefkasten entwickelt sich zu einer Wanderung, die ganze 1009 km andauert und an deren Ende, so hofft Harold, Queenie auf ihn wartet, damit er sich von ihr verabschieden kann.
Diese Wanderung ist gleichzeitig eine Läuterung seiner selbst, der Katalysator für sein unsichtbares und schuldbeladenes Dasein.
Die Autorin vermag es, Harolds vermeintliches Versagen als Ehemann und Vater voller Gefühl und Einfühlungsvermögen aufzuarbeiten. Seine immensen Selbstzweifel, die ihn immer wieder überfallen, seine Schuldgefühle, sein Schmerz – dies alles ist in eine wunderbare, ruhige, einfache, aber anrührende Sprache gepackt. Und nicht ein Satz ist ihr langweilig geraten. Ich habe das Buch schon mehrfach gelesen und bin jedes Mal erneut begeistert.