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Übergriffig


Dieses Thema habe ich mir ausgesucht, weil ich kürzlich einen Text las, der mich sehr angesprochen hat. Es ging darum, dass es sich verbietet, den Kleidungsstil anderer zu kritisieren oder Narben, Dehnungsstreifen, zuviel oder zu wenig Gewicht, die Frisur usw. zu kommentieren.

Was für uns selbstverständlich erscheint, ist es für viele Menschen offenbar nicht. Klar bilde ich mir meine Meinung, ich lästere auch gern mal oder rümpfe die Nase, wenn jemand sehr aus dem Rahmen fällt. Aber würde ich auf die Idee kommen, der jungen Frau, die vor mir in den Bus steigt, zu sagen, dass ihr Hinterteil in der schlabberigen Baumwollhose wie das eines Brauereipferdes aussieht? Nein.

Warum würde ich es ihr nicht sagen? Weil ich davon ausgehe, dass sie einen Spiegel zu Hause hat und selbst sehen kann, wie sie sich kleidet. Und offensichtlich gefällt sie sich so oder es gibt andere Gründe für ihre Kleiderwahl.


Kürzlich unterhielt ich mich mit einer 82-jährigen Dame, die etwas rundlich war, aber ansonsten noch ganz gut in Schuss. Sie erzählte, dass bei ihrem letzten Hausarztbesuch die Schwester ihr unaufgefordert und ohne Anlass eine Broschüre über gesunde Ernährung gab. Sie meinte dazu, die Dame sei doch zu dick und müsse dringend etwas tun. Die alte Dame war immer noch entrüstet und verunsichert und das kann ich gut verstehen. Davon mal abgesehen, dass man mit 82 keinem Schönheitstrend mehr hinterlaufen muss, kann man wohl auch davon ausgehen, dass sie inzwischen weiß, wie sie sich ernähren muss und was ihr gut tut. Das Verhalten der Schwester war deutlich übergriffig, da es nur ihre eigene Sicht auf die Dinge widerspiegelte.

Anzunehmen, dass die eigene Weisheit das Maß für alles ist, passiert auch in anderen Lebensbereichen. Da wird kommentiert, wie Alltagsdinge doch besser zu erledigen sind, dass dieses oder jenes Produkt schlecht ist, mit wem man nicht verkehren sollte usw. Derjenige, der es besser weiß, stellt seine Sicht, seine Erfahrungen, sein Wissen über das der anderen Person. Mag das bei Kindern noch angehen, ist es bei Erwachsenen meiner Meinung nach in den meisten Fällen unangebracht. Es impliziert nämlich, dass derjenige nicht weiß, was er tut oder sich keine Gedanken darüber macht. Und das ist übergriffig.

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, in Fällen, zu denen ich gerne meinen Senf geben möchte, nicht mit Besserwisserei zu glänzen, sondern zu fragen, warum Derjenige dies oder jenes so macht. Das hat den Effekt, dass der Betreffende mir seine Gedanken/ sein Tun erklären kann (und mich vielleicht sogar überzeugt) oder aber sich selbst fragt, warum ich diese Frage stelle. Wenn dann die Gegenfrage kommt „Wie würdest du es denn machen?“, dann kann ich meine Erklärung abgeben, denn dann ist es gewollt.

Warum beschäftige ich mich nun als Autorin mit diesem Thema?  Da gibt es mehrere Gründe. Hinter dem Bedürfnis, die eigenen Erfahrungen und Meinungen anderen „aufzudrängen“ stecken ja Ursachen. Die für eine Story herauszukitzeln, ist eine Herausforderung für mich. Auch die Gegenseite, die unter dem übergriffigen Verhalten leidet, darzustellen, ihre Gefühle, vielleicht ihre wachsende Wut, Verzweiflung und den Weg zur Gegenwehr zu beschreiben, reizt mich. Und nicht zuletzt möchte ich mit meinen Geschichten natürlich auch die Realität einfangen. Denn Situationen, in denen wir übergriffig agieren oder in denen wir Übergriffigkeiten ausgesetzt sind, kennen wir doch alle. Meine Geschichten müssen nicht zwingend Botschaften transportieren. Aber ich freue mich, wenn es mir gelingt, meine Leser zum Nachdenken anzuregen.