Prosopagnosie und die Antwort auf die Frage, wieviel Beschreibung benötigt meine Figur, damit der Leser sie sich vorstellen kann

Jetzt fragst du dich, was Prosopagnosie denn eigentlich ist? Es ist eine Erkrankung des Gehirns und ich habe sie: Gesichtsblindheit.
Bei dieser Erkrankung ist die Möglichkeit zur Unterscheidung verschiedener Gesichter bzw. das Erkennen (auch bekannter) Gesichter nicht möglich oder in unterschiedlichen Graden eingeschränkt. Das Bild zeigt es ziemlich deutlich. Leg mir eine beliebige Anzahl Bilder mit gleichen oder ähnlichen Gesichtern vor und ich kann dir nicht sagen, ob es sich um dieselbe oder unterschiedliche, aber ähnliche, Personen handelt. Ich muss mühsam verschiedene Merkmale vergleichen, um Unterschiede festzustellen. Etwa die Form der Augen, der Lippen, der Augenbrauen, des Kinns usw.
In der Realität ist es so, dass ich Personen, die ich lange nicht gesehen habe oder auch Personen, die ich selten sehe, als Fremde wahrnehme. Stell dir vor, du triffst jemanden, der dich freudig anspricht, sogar mit Du anredet und du weißt zum Teufel nochmal nicht, wer das ist. Genau so fühlt sich das an. Bestenfalls fragst du nach: Entschuldige, ich kann dich grad nicht zuordnen. Woher kennen wir uns?
Menschen mit Prosopagnosie verpassen regelmäßig den Zeitpunkt, bis zu dem man diese Frage noch stellen kann, ohne unhöflich zu wirken. Sie hoffen immer, an Hand des Gesprächsinhaltes die Person erkennen zu können. Wer mich mit Du anredet, müsste mir doch eigentlich vertraut sein, oder? Man hadert mit sich, dass man es nicht schafft, herauszubekommen, wer da vor einem steht.
Ich habe mir im Lauf meines Lebens einige Taktiken zugelegt, wie ich Personen zuordnen kann. Es klappt nicht immer. Zeitweise grüße ich jeden, der mich ansieht, als ob wir uns kennen müssten. Das tut ja nicht weh und führt bestenfalls dazu, dass ich als freundliche Person wahrgenommen werde. Und du glaubst nicht, wie viele Gespräche ich schon mit Leuten geführt habe, die mich kannten und von denen ich bis heute nicht weiß, wer sie waren. Das ist oft nicht angenehm, aber ich habe gelernt, damit zu leben.
Die Frage, die sich mir als Autorin zum Thema „Wieder-Erkennen“ stellt, ist: wie wichtig ist es, Personen zu beschreiben? Muss ich dem Leser detailliert erzählen, wie meine Figuren aussehen? Muss ich schreiben, dass Max dichte schwarze Augenbrauen, schmale Lippen und eine gerade Nase hat? Muss ich beschreiben, dass Adele grüne Augen, kleine Brüste und langes, lockiges, blondes Haar hat?
Meine Antwort: Kann ich, muss ich aber nicht.
Warum sollte ich zum Beispiel meinen Lesern meine Ansicht von einem schönen Mann aufzwingen? Es gibt keinen Grund, ein vorgefertigtes enges Korsett zu präsentieren, in welches ich meine Figuren quetsche. Die Fantasie meiner Leser ist so einzigartig und unterschiedlich. Jeder hat ein eigenes Bild von einer schönen Frau, einem Muskelprotz, einer Oma oder einem Sumoringer. Das nutze ich. Natürlich muss ich kleine Anhaltspunkte geben, damit die Figur im Rahmen der Handlung stimmig und real wirkt. Nur wenn es wichtig ist, beschreibe ich, dass Peters Augen zu eng stehen, Myra Lücken im Gebiss hat oder Freddys Gesicht faltig ist. Um die Fantasie meiner Leser anzuregen, schreibe ich aber keine Details, sondern verkleide meine Informationen. Peter sieht wie ein verschlagener Fuchs aus, Myras Besuch beim Zahnarzt ist lange überfällig und Freddys Alkoholkonsum lässt ihn wie eine verschrumpelte Kartoffel aussehen. Hast du jetzt ein Bild vor Augen?
Genau das ist die Kunst. Im realen Leben erkenne ich Menschen oft nur an der Art, wie sie reden, wie sie sich bewegen, nicht daran, wie sie im Detail aussehen. Und das spiegelt sich in meinen Geschichten wider.