Ausreden und Notlügen

Sind sie eine Notwendigkeit?
Wenn es nach der Forschung geht: ja. Es ist ein zutiefst menschliches Verhalten, Ausreden und Notlügen zu gebrauchen, um andere nicht zu kränken, sie zu schützen oder Konflikten aus dem Weg zu gehen. Jeder von uns hat sie schon einmal benutzt. Sie sind – so komisch das klingt – der Kitt in den zwischenmenschlichen Beziehungen.
Jemandem direkt ins Gesicht zu sagen, dass man keine Zeit mit ihm verbringen möchte, weil man Besseres zu tun hat oder einfach keine Lust hat, mit ihm zusammen zu sein, wäre ein Fauxpas und würde dazu führen, dass der Andere sich gekränkt fühlt, wütend oder verletzt wird.
Eine Trennung vom Lebenspartner damit zu begründen, dass seine Eigenheiten, die man einmal liebte, inzwischen absolut unerträglich sind, wäre verletzend und würde zu Unverständnis führen.
Einer Witwe zu sagen, dass man mit ihrem Ehemann ein Verhältnis hatte, ist ebenso unangebracht wie gemein, da die Wahrheit niemandem mehr etwas nutzt.
Es ist ganz nachvollziehbar, dass man in diesen und tausenden anderen Fällen lieber zu einer Ausrede oder Notlüge greift oder greifen sollte. Sonst würde kaum noch jemand mit einem anderen reden, weil man sich gegenseitig gekränkt und verletzt hat. So sehr ich Ehrlichkeit schätze, finde ich den Gebrauch von Notlügen und Ausreden im Falle des Falles nicht verkehrt.
Eine andere Art von Ausreden, deren Ursache zwar ebenfalls absolut menschlich ist, die jedoch nicht in allen Fällen notwendig sind, gibt es allerdings auch. Diese Ausreden gebrauchen wir, wenn wir uns einer Sache nicht gewachsen fühlen, Angst haben, uns vor einer unangenehmen Situation drücken wollen oder uns insgesamt in unseren Gefühlen nicht entblößen wollen.
Zuzugeben, dass er Angst davor hat, mit der Achterbahn zu fahren, würde den gestandenen Mann in den Augen der Angebeteten vielleicht herabsetzen. Deshalb behauptet er, dass er Achterbahnen doof findet und noch nie leiden konnte.
Vielleicht fände die Angebetete jedoch das Geständnis, dass er Angst hat, viel anrührender und männlicher, weil er zu seiner Angst steht?
Oder … Was würde passieren, wenn die Frau, die behauptet, sie wolle keine Kinder haben, zugeben würde, dass sie einfach eine exorbitante Angst vor der Schwangerschaft und dem Geburtsvorgang hat? Sie könnte vielleicht Hilfe durch eine Freundin bekommen, die ihr das genau erklärt und alle Fragen beantwortet.
Sich zu entscheiden, diese Art der Ausrede nicht zu gebrauchen, sondern ehrlich darüber zu sprechen, worin das Problem liegt, könnte uns das Leben erleichtern oder es sogar deutlich zum Positiven verändern. Natürlich muss man sich die Frage stellen, wem gegenüber man sich da „offenbart“, denn nicht jeder kann mit den vermeintlichen Schwächen des Anderen gut umgehen. Aber grundsätzlich würde es sich lohnen, zumindest darüber nachzudenken, ein Problem auf diese Weise nicht zu umschiffen, sondern in Angriff zu nehmen.
Als Autorin finde ich dieses Thema besonders spannend. Wenn es mir gelingt, in die Tiefen einer Figur vorzustoßen und dem Leser glaubhaft zu vermitteln, worin die Angst besteht und welche Hürden es zu überwinden gilt, der Angst Herr zu werden, dann kann ich authentische Charaktere schaffen, die ans Herz gehen oder zumindest emotional mitreißen. Das ist jedes Mal eine Herausforderung, bei der ich selbst immer neu lerne.