Es ist noch gar nicht so lange her
Es ist noch gar nicht so lange her, da lebten im Fünferland, das wie eine Insel zwischen dem Zwölfer- und dem Neunerland liegt, fünf Zwerge.
Maxel, Schnurpel, Tippsi, Kracher und Butzel, so hieß der Kleinste von ihnen, wohnten fernab von ihren Zwergenfamilien. Tagein tagaus gingen sie in den Wald und fällten Bäume und wer weiß, wie schwer die Arbeit für große Menschenleute ist, der kann gut nachvollziehen, wie hart sie schuften mussten. Schließlich maß der Größte unter ihnen, Schnurpel, gerade einmal zwei Spannen. Oder anders ausgedrückt: einem Menschenmann reichte Schnurpel nicht ganz bis zum Gürtel, während Butzel die Kniescheibe eines Menschenmannes sehr sehr gut aus Augenhöhe studieren konnte.
Schon in der Schule lernt man, dass Fünferland nicht das größte Land ist. Und es war zu dieser Zeit schon recht dicht bevölkert. Das war auch der Grund für die fünf Zwerge, an die Grenze zu ziehen und dort ihr Glück zu versuchen.
Sie arbeiteten viele Stunden am Tag und abends fielen sie todmüde in ihre Betten, die ihnen die Wirtin der Herberge für einen kleinen Obolus, ich glaube es handelte sich um einen Fünfer, zur Verfügung stellte.
Da sie recht sparsam wirtschafteten, hatten die Fünf schon einen guten Batzen zur Seite gelegt, obwohl sie auch gelegentlich einen Groschen nach Hause zu ihren Zwergeneltern sandten.
An einem Abend im sechsten Monat ihres dritten Jahres an der Grenze begab es sich nun, dass die fünf Zwerge Geburtstag feierten. Zwar waren sie alle an unterschiedlichen Tagen geboren, denn bei den Zwergen trug sich dies nicht anders zu, als bei den Menschen. Aber aus Sparsamkeitsgründen feierten die Fünf ihren Geburtstag gemeinsam an einem ausgesuchten Tag.
Der fiel in diesem Jahr auf den Anfang der Woche. Unsere fünf Zwerge wussten wohl, dass sie am nächsten Tage wieder in den Wald ziehen würden, waren aber dennoch zutiefst davon überzeugt, dass sie einen ganzen Stiefel von dem leckeren Holunderlikör vertragen konnten, der im hiesigen Wirtshaus ausgeschenkt wurde. In diesem festen und unerschütterlichen Glauben leerten sie so manches Glas über den Durst und schwankten spätnachts, die Breite der Straße gründlichst ausmessend, in ihre Herberge zurück, wo sie schnarchend in die Federn sanken.
Am nächsten Morgen, man ahnt es schon, ging es den Zwergen gar nicht gut. Maxel, Schnurpel, Tippsi und Kracher rieben sich die Brummschädel und knurrten und murrten in ihre Bärte, während der kleine Butzel noch in todesähnlichem Schlaf verharrte. Nur sein sich leise hebender Brustkorb verriet den anderen, dass der Winzling, wie sie ihn unter sich nannten, noch lebte.
Für unsere fünf pflichtbewussten Zwerge gehörte es sich auch an diesem heutigen denkwürdigen Tag, einige Bäume zu fällen, damit das Loch, welches der Holunderlikör ins Säckel gerissen hatte, gestopft werden konnte. Das bedurfte natürlich des Einsatzes ihrer muskelbewehrten Körper, welche sie zu diesem Zwecke in den Wald bewegen mussten. Schnurpel kannte deshalb keine Gnade und rüttelte auch den kleinen Butzel wach, der den vier anderen schlaftrunken und desorientiert hinterher trottelte und dieses und jenes Mal über eine Wurzel stolperte oder in ein Loch sank.
Zwar rappelte Butzel sich allemal ohne Hilfe hoch, aber man darf nicht glauben, dass ihm dies sonderlich leicht fiel. Entsprechend verdüsterte sich seine Stimmung und so bemerkte er gar nicht, dass er an der fünften Weggabelung statt nach links nach rechts abbog. Ganz angenehm empfand Butzel das Fehlen jeglichen Schnaufens, Schnarrens, Murrens und Knurrens seiner Gefährten. Ja er genoss regelrecht das Singen der Vöglein und das Rascheln der Mäuse im Dickicht.
Bis, nun, bis ihm auffiel, dass er ganz allein im Wald war. Erschrocken blieb Butzel stehen und versuchte, sich zu orientieren. Wo waren denn nur Maxel, Schnurpel, Tippsi und Kracher abgeblieben?
Butzels Kopf brummte fürchterlich, als er laut nach den anderen Zwergen rief. Ganz fern hörte er Stimmen oder vermeinte dies zumindest, denn bei einem richtigen Brummschädel weiß man ja nie, ob einen die Sinne nicht trügen.
Tatsächlich, weit entfernt vernahm Butzel ein Rufen und weil unser Zwerglein der Kleinste der Fünfe war, sauste er zwischen den eng stehenden Tannen und unter niedrig hängenden Ästen hindurch zur Quelle des Rufens und achtete nicht auf Weg und Steg.
Wie erstaunt war aber Butzel, als er nicht seine Gefährten antraf, sondern eine ranke schlanke Fee, deren strahlende Schönheit nur durch ihre geröteten Augen beeinträchtigt war. Die Fee weinte bitterlich. Ob vor Freude oder voller Schmerz, wissen wir nicht, aber als sie Butzel sah, strömte ihr das Wasser nur so aus dem Gesicht.
Unser kleiner Zwerg, der noch nicht ganz wieder er selbst war, erkannte erst beim zweiten Hinsehen, was der Grund für den Tränenausbruch dieses zarten Wesens schien: ein schlankes Füßlein steckte tief in einem Erdloch und das Feelein konnte sich nicht allein befreien.
„Oh bitte bitte hilf mir!“, flehte das zauberhafte Geschöpf und schwenkte einen Funken sprühenden Stab.
„Ich erfülle dir auch einen Wunsch, aber bitte befreie mich!“
Butzel sah die Fee skeptisch an. Warum befreite sie sich wohl nicht selbst? Und dann fiel es ihm ein. Natürlich! Für sich selbst durften Feen ja nicht zaubern.
Aber auch so bedurfte es keiner großen Überredungskunst. Schließlich mag ein Zwerg ja klein sein, aber ein Gentleman war er allemal. Zu dumm nur, dass Butzels Kräfte allein nicht ausreichten, um dem Fräulein zu helfen.
Ganz entfernt hörte Butzel da das Schlagen der Äxte und weil sein Schädel schon etwas weniger brummte, gelang es ihm auch, seine Gefährten ausfindig zu machen und zu der Fee und ihrem Fuß zurück zu bringen. Was war die Freude groß!
Und dann ging es los. Zuerst fasste Schnurpel die Fee am Knöchel, dann umarmte Tippsi Schnurpel und verstärkte dessen Kraft. Maxel zog Tippsi am Gürtel und Kracher stemmte sich in den Waldboden und zog wiederum Maxel an den Schultern und zu guterletzt hing Butzel sich an Krachers Gürtel und mit einem Knirschen löste sich des Feeleins Fuß aus dem Loch. Nun weinte das zarte Wesen wieder und wir wissen abermals nicht, ob aus Freude oder aus Schmerz.
Als sich die Fee beruhigt hatte, wiederholte sie ihr Versprechen und bat jeden der Zwerge um einen Wunsch.
Die Zwerge ließen sich auch nicht lang bitten.
Schnurpel wünschte sich eine Kiste voll Gold. Die Fee schwenkte ihren Zauberstab und rumms, fiel eine Kiste voller Gold aus der Tanne, neben der Schnurpel stand. Tippsi wünschte sich für seine Familie und sich selbst ein Leben voller Gesundheit und schon fuhr die Gesundheit ihm in die Knochen, wo sie wohl auch lange bleiben sollte. Der Maxel wiederum dachte recht praktisch und wünschte sich ein sehr langes Leben und schwupps, man konnte gar zusehen, verschwanden die Falten, welche sein Gesicht seit geraumer Zeit zierten.
Kracher wünschte sich eine kluge und schöne Frau und als der Nebel sich verzog, den der feenhafte Zauberstab bei diesem Wunsche produziert hatte, stand da ein allerliebstes Zwergenfräulein und sah Kracher aus verliebten Augen an.
„Nun“, wandte sich die Fee an den letzten verbliebenen Zwerg, „was wünscht du dir?“
Butzel druckste ein wenig herum. „Ich“, setzte er an, „ich wünsche mir, groß zu sein.“
Die Fee seufzte, schwenkte ihren Zauberstab und dann fuhr der Blitz in unseren kleinen Butzel. Alle rieben sich die Augen, weil der Blitz so blendend hell war.
Als die Rauchschwaden sich lichteten, stand da ein schöner Jüngling. Der war so groß, dass alle Zwerge und sogar die Fee zu ihm hoch schauen mussten. Was war das aber auch für ein gut aussehender Mann!
Der Fee entfuhr ein: „Huch“, denn sie hatte als erste gemerkt, dass Butzels Kleider nicht mit gewachsen waren und nur noch als Fetzen an ihm herum hingen. Und als sie seine starken Muskeln und den wohlgeformten Rest von Butzel betrachtete, dachte sie: „Oijoijoijoijoi!“
Dann schwenkte die Fee schnell noch einmal den Zauberstab und schlurppps hatte Butzel eine schmucke Uniform an, in deren Tasche ein Zettelchen steckte, auf dem die Adresse unserer Fee vermerkt war. Man weiß ja nie!
Die fünf Zwerge und Krachers Liebste verabschiedeten sich herzlich von ihrer Gönnerin und jeder meinte für sich, was dies doch für ein glücklicher Tag sei.
Und damit wollen wir sie ihrem Glück überlassen.
Vielleicht, ja vielleicht, kommst auch du einmal ins Fünferland und im Handumdrehen geschieht dir etwas, mit dem du nicht gerechnet hast. Wollen mal sehen!